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Debatte BildungAbitur an die Realschulen

Kommentar von Christian Füller

Das planlose Stop and Go bei der Gymnasialzeit könnte am Ende zu einem historischen Kompromiss im ewigen deutschen Schulstreit führen. Und zu neubenannten Schulen.

Ob 2017 oder 2018, wird sich noch herausstellen. Bild: dapd

G 8 steht für den Club der mächtigsten Staaten der Welt. Und für das beschleunigte Achtjahresgymnasium. Für Eltern freilich ist G8 Symbol für den größten anzunehmenden Unsinn von Schulverwaltung. Keine Schulreform verlief je so chaotisch wie das Turbogymnasium. Es raubt vielen Kindern die Freizeit, es macht das Gymnasium zur Farce. In Berlin gibt es sogar die Variante eines siebenjährigen Höllenritts zum Abitur.

Kaum aber ist das Gymnasium in Deutschland halbwegs am Laufen, bremsen jene Ministerpräsidenten es wieder ab, die einst seine Beschleunigung durchdrückten. Man glaubt es kaum, was die Politik Schülern und Schulen anzutun bereit ist. Schulverwaltung mag vieles können – Schule verwalten kann sie nicht.

Dennoch könnte aus dem Gymnasial-Gemurkse etwas Gutes werden. Denn die beiden sich durchsetzenden Laufzeiten von acht und neun Jahren könnten zu zwei unterschiedlichen, aber gleichwertigen Wegen zum Abi führen. Den Unis ist es ja egal, ob ihre StudienbewerberInnen die Hochschulreife im Turbo- oder im Denkergang errungen haben. Für die Gesamtschule wäre es ein Segen, wenn sie mit Neunjahres-Abiturienten ihre Lernklientel verbessern könnte. Und das tut sie. Integrierende Schulen profitieren ungemein von der neuen Lust des Bildungsbürgertums am Abitur nach 13 Jahren Lernen.

taz
Christian Füller

betreut die Bildungsseite in der taz. Er machte Abitur am Gymnasium Bad Kissingen (Bayern). Bei einem Besuch jüngst konnte er im Kunstraum immer noch in seinen alten Schulbänken Platz nehmen – aus dem Jahr 1983.

Beispiel Berlin: In der Hauptstadt läuft eine der größten Schulreformen der Geschichte, die Fusion von Haupt- und Realschulen zu „integrierten Sekundarschulen“. Sie funktioniert erstaunlich gut. Obwohl von organisierten Eltern, Gymnasialrektoren und sogar der Bundeskanzlerin zunächst madig gemacht, trägt sich Wundersames zu: Nicht die Gymnasien sind Berlins Publikumslieblinge, sondern die neuen Sekundarschulen – und das obwohl das Elternwahlrecht für die höhere Schule praktisch frei gegeben ist.

Das heißt, jeder könnte ans Gymnasium. Auf den Plätzen eins bis zehn der beliebtesten weiterführenden Schulen aber rangieren integrierte Schulen. Was heißt das? Die Eltern wählen lieber den fröhlichen Spatz Gesamtschule in der Hand als die schnelle Taube Gymnasium auf dem Dach – sofern auch der Spatz zum Abi flattern darf.

Beinahe im Strafgesetzbuch

Beispiel Niedersachsen: Obwohl unter Christian Wulff die Gesamtschule beinahe ins Strafgesetzbuch Eingang fand (die Schulform wurde zum Auslaufmodell erklärt), feiert die integrierende Schule in Niedersachsen riesige Erfolge: Zwei Gesamtschulen aus Hildesheim und Göttingen gewannen den renommierten Deutschen Schulpreis, die Zahl der Gesamtschulen steigt unaufhaltsam.

Die Eltern vor Ort entscheiden sich in lokalen Schulvolksabstimmungen regelmäßig für diese einst so verdammte Schulart aus den 70er-Jahren. Der entscheidende Schub kam in Niedersachsen – durch das Schnellabi in acht Jahren. Viele Eltern nahmen das zum Anlass, ihre Kinder an die Gesamtschule zu retten, wo sie neun Jahre aufs Abitur lernen können.

Was bedeuten diese Entwicklungen? Sie weisen einen klugen Ausweg aus einer Sackgasse und einem erbitterten Schulkrieg. Seit Willy Brandt mehr Demokratie wagen wollte und sogar mancher CDU-Mann wie etwa Bernhard Vogel für Gesamtschulen eintrat, wurde diese Schulform zum Hassobjekt der Nation. Die Gymnasialfans hielten den Gesamtschul-Anhängern genussvoll die schwachen Ergebnisse der verhassten Einheitsschule vor. Die Gesamtschul-Jünger keiften zurück, dass ein gutes Nebeneinander der beiden Oberschulen nicht möglich sei, solange die Gymnasien wie Magneten die besseren Schüler aus den Gesamtschulen abziehen.

Jetzt, mit G8 und G9, ist plötzlich eine andere Situation da: Beide Formen sind heute attraktiv – auch für Bildungsbürger; beide sind gleichwertig – wenn auch verschieden. Bringt ausgerechnet das verzwickte G8/G9 Frieden in einen Schulkrieg, der in Deutschland geführt wird – im Grunde seit sich 1869 das humanistische und das Realgymnasium um das Abiturprivileg zu streiten begannen?

Aber Schulpolitik ist nicht rational. Die niedersächsische Landesregierung etwa stützt nicht etwa den Elternwillen, sondern sie konterkariert, ja sabotiert ihn. So zwang der Kultusminister des Landes, Bernd Althusmann (CDU), auch Gesamtschulen das achtjährige Abitur auf – mit der absurden Begründung, man dürfe Gesamtschulen nicht bevorzugen. Das einzig Gute an diesem Argument ist, dass seine Dummheit und Skrupellosigkeit für jedermann durchschaubar ist. Eltern wählen Regierende, die so intelligent Politik machen wollen, einfach ab.

Vorschläge für den Süden

Aber wie könnte ein Nebeneinander von Schulen mit zwei Geschwindigkeiten zum Abitur in Bayern oder Baden-Württemberg gelingen? Immerhin sind das die großen und leistungsorientierten Länder, in denen es praktisch keine Gesamtschulen gibt.

In Baden-Württemberg werden gerade fleißig Gesamtschulen, sprich Gemeinschaftsschulen eingeführt. Und auch für Bayern gäbe es eine Antwort. Aber es ist nicht jene, die Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) mit dem verkorksten „freiwilligen Ergänzungsjahr“ gegeben hat: Wie soll man diese Ehrenrunde für schwächelnde Gymnasiasten sinnvoll ins Schulleben integrieren? Zu sehr ähnelt sie dem Sitzenbleiben, das heute fast niemand mehr gutheißt – schon gar keine späteren Abiturienten.

Nein, die revolutionäre Antwort für Bayern könnte heißen, das neunjährige Abitur an den Realschulen anzubieten. Nirgends in Deutschland sind Realschüler besser dort. Es wäre eine verdiente Belohnung für die elitären Realschullehrer, wenn sie – endlich! – ein Abitur abnehmen dürften. Die weißblauen Realschulen sind auch bei den Eltern sehr beliebt. Ein Abi würde gewiss einen Run auf diese Schulform auslösen. Die bayerischen Betongymnasien müssten sich dann auf Schülersuche begeben – und reformieren.

Nur eins müsste man den Realschulen abverlangen: dass sie die bisherigen Hauptschulen mit aufnehmen. Dann gäbe es auch in Bayern eine Art Gesamtschule – nur hätte sie einen anderen Namen: Realschule mit gymnasialer Oberstufe G9. Eigentlich ein schöner Name. Ganz ohne den Schmock der 1970er-Jahre.

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8 Kommentare

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  • S
    Sommerferien

    Tja, die Kinder- und Elternschaft ist wohl komplett in Urlaub, hauptsächlich die der angesprochenen Länder Bayern und Baden-Württemberg :-)

     

    Daher wohl auch die überwiegend seltsamen Kommentare.

     

    Sommerloch der Kommentatoren!

     

    Ich persönlich finde das Parallelangebot super, wenn denn das G8 unbedingt beibehalten werden soll! Ich finde G9 grundsätzlich besser, auch wenn der "Osten" es angeblich schon "immer" in 8 Jahren geschafft hat.

    Stimmt so nämlich nicht: Zu DDR-Zeiten gingen die Schüler alle gemeinsam bis Klasse 10, später bis Klasse 8 in eine Schule! Und danach durften max. 2 je Klasse Abitur machen (vorausgesetzt, dass die Partei und das Verhalten der Eltern stimmte).

     

    Und auch jetzt habe ich eher das Gefühl, dass in Sachsen noch eher nach einem sowjetischen oder chinesischen Leistungsprinzip gelernt und gearbeitet wird. Die superguten werden gefördert bzw. gedrillt und die anderen sollen schauen, wo sie bleiben und die anderen ja nicht stören.

     

    Leider sind die sog. Mittelschulen in Sachsen derzeit wirklich eher "Restschulen", obwohl scheinbar auch in Sachsen eine Hauptschule nicht existiert. Die sächsischen Mittelschulen sind derzeit kein Alternativangebot für SchülerInnen, die beim Lernen wenig Probleme haben, aber deren Eltern sich dennoch ein G9 wünschen.

     

    Aus Rheinland-Pfalz kenne ich das anders: Hier schicken die Eltern ihre Kinder wirklich gerne auf Gesamtschulen als Alternative zum Gymnasium. Ist aber eben auch eine wirkliche Alternative.

  • C
    Ceres

    Abitur an Realschulen? Wenn man das Abitur als Sonderangebot unters Volk mischt, dann kommen natürlich auch die Eltern angerannt. Die sind nämlich nicht doof und wissen, dass auf dem Arbeitsmarkt nur noch Abi zählt und je billiger/einfacher man es bekommt, desto besser.

     

    Für die Länder gab es nur einen gewichtigen Grund fürs Turboabi. Sie konnten damit Lehrer sparen.

    Es wird zwar immer die Bildungsrepublik ausgerufen, nur dafür bezahlen will niemand.

  • FK
    Fred K'heimer

    Bayerische Kinder müssen auch deshalb auf Bänken aus dem Jahre 1983 sitzen, weil man kein Geld für neue Möbel hat. Dieses Geld wird nach Berlin geschickt, damit man dort in der Manier eines Hochstaplers, wie immer über die Einnahmen hinaus, Geld ausgeben kann: Mal hier ein neues Museum, da ein neues Schloß und dann z.B. auch einen Flughafen bei dem sämtliche Budgets Makulatur sind.

     

    Daß in einer Stadt die es seit 1945 gut kultiviert hat, das Geld aus dem Rest der Republik einzusammeln um es dann zu veruntreuen, 20% der Leute auf Kosten der Steuerzahler (letztendlich auch der im Süden) lebt, überrascht auch nicht wirklich.

     

    Das mentale Setup der Bewohner Berlins, einschließlich der Politiker, stimmt nicht.

     

    Berlin braucht den kalten Enzug: Sofortiger Stopp aller Transferleistungen. Und Visapflicht für die Einreise in die alten Bundesländer.

  • K
    KlausK

    Ist das nun gut oder nicht, dass Christian Füller bei seinem Besuch im Kissinger Gymmi auf seinen Schulbänken von 1983 Platz nehmen konnte?

    Gute Schulmöbel (Vorsicht: Werbung für VS Tauberbischofsheim) halten locker 50 Jahre durch und können sogar Hyperaktiven standhalten.

    Die Möbel an meiner letzten Schule wurden in 20 Jahren 2 x komplett ersetzt. Die waren nicht von (siehe oben).

  • A
    Arminius

    Die diskriminierende Praxis, das Abitur an die Erbringung von Leistungen zu koppeln, muß dringend abgeschafft werden. Wir brauchen ein Abitur für alle, das automatisch bei Vollendung des 18ten Lebensjahres erteilt wird.

  • T
    Thorsten

    Toller Vorschlag für Bayern.

     

    Gibts bloss schon.

    Realschule plus FOS oder BOS = Abitur.

     

    Änderung nicht nötig.

  • B
    Bundesbürger

    Die wichtigste Reform im Schulbereich wäre die Kompetenzverlagerung auf den BUND, damit endlich BUNDESWEIT einheitliche Schulregelungen bestimmen. Schulpolitik sollte nicht länger Ländersache sein, sondern zentral von Berlin vorgegeben werden.

     

    Schüler sollten egal ob in Magdeburg, Kiel, München oder Köln überall nach den gleichen Schulsystem und Schulregelungen ausgebildet werden.

  • R
    Ralph

    Was wir brauchen, ist ein Ende der "heute hü, morgen hott, und übermorgen schaumerma"-Mentalität. Wie soll irgendjemand lernen, wenn er gar nicht weiß, worauf es morgen ankommt - und schlimmer noch, wenn er davon ausgehen darf, daß das heute Gelernte bei der Prüfung in ein paar Jahren irrelevant ist, und daß er etwas ganz anderes hätte lernen müssen?

     

    Schluß damit. Sagt endlich, wie's laufen soll, und dann *bleibt dabei*.