piwik no script img

Folgen des Mauerbaus„Ulbricht läuft mit der Pistole rum“

Schon am Tag nach dem Bau der Mauer kapitulierten Lehrer, Erzieher und Schüler. Wer sich wehrte oder seine Meinung äußerte, wurde aus der Schule geworfen.

Arbeit an der Berliner Mauer. Mit welchen Folgen für Schüler und Studenten? Bild: dapd

Nach dem Bau der Mauer kamen Studierende (Ost) nicht mehr an ihre Universität (West), Schüler nicht mehr in ihre Klassen, Lehrlinge nicht mehr an ihren Ausbildungsplatz. Viel mehr weiß man bislang nicht über die Folgen des Mauerbaus für Schüler und Studenten. Grund genug dafür, die Archive des Ostberliner Magistrats zu sichten, um zu erfahren, wie Lehrer, Erzieher und Schüler auf die Mauer reagierten.

Der Schnellhefter des Ostberliner Stadtarchivs trägt in großen Lettern den Aufbewahrungsort „Rep 120“, was für Repositorium steht und im Archivdeutsch so viel wie Regal heißt. Per Hand ist in Schreibschrift ergänzt „13. August 1961“. Der Hefter ist schmal, und er enthält keine Sensationen, derentwegen die Geschichte neu geschrieben werden müsste. Was sich findet, sind Mosaiksteinchen einer Unterwerfung.

Schon am 14. August 1961 schreibt Edeltraud B. aus der Stalinallee an die Kreisleitung der SED Berlin-Friedrichshain: „Von den Maßnahmen, die unser Arbeiter-und-Bauern-Staat zum Schutze des Friedens durchgeführt hat, bin ich begeistert. Ich habe bisher stets versucht, als Kindergärtnerin die mir anvertrauten Kinder im sozialistischen Sinne zu erziehen und als Vertrauensmann der Gewerkschaftsgruppe sowie als Hausgemeinschaftsleiter die Interessen der Werktätigen und damit unsere Arbeiter-und-Bauern-Macht allseitig zu vertreten.“

Noch besser könne Edeltraud B. das, wenn sie in den Reihen der Partei der Arbeiterklasse kämpfen dürfe. „Aus diesem Grunde bitte ich um Aufnahme als Kandidat in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands.“

Gewissenhafte Ausführung der Aufgaben

Vier Tage später unterschreiben Kolleginnen der drei Kindergärten Dimitroffstraße 127, 199 und 241 eine handschriftlich verfasste Resolution: „Wir verpflichten uns, unsere politischen und pädagogischen Aufgaben im neuen Schuljahr so gewissenhaft und korrekt als möglich zu erfüllen. Wir grüßen alle Soldaten unserer Volksarmee – Volkspolizei und Mitglieder unserer Kampfgruppen.“

In Schönschrift begrüßen acht Mitarbeiterinnen des 5. Kindergartens Berli- Köpenick die „Maßnahmen unserer Regierung, die dem Grenzgängerunwesen ein Ende bereitet haben“. Um ihre Verbundenheit mit „unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat“ zum Ausdruck zu bringen, erklären sie sich bereit, „die Kapazität in unserem Kindergarten von 67 auf 72 zu erhöhen, sodass noch mehr Mütter die Möglichkeit haben, eine Arbeit aufzunehmen, um so beim Aufbau in unserer Republik zu helfen.“

In der Magistratsakte finden sich auch Selbstverpflichtungserklärungen. Verschiedene Klassen geloben darin, kein Westradio oder -frnsehen mehr zu empfangen. „Am 13. August wurde den westdeutschen Militaristen eine Möglichkeit genommen, die DDR beim Aufbau des Sozialismus zu stören“, lautet ein Text. „Seit dieser Zeit versuchen die Militaristen über die westlichen Rundfunk- und Fernsehsender verstärkt, Unruhe unter der Bevölkerung der DDR zu verbreiten. Sie scheuen dabei nicht vor Lügen und Verleumdung zurück. – Wir Schüler der Klasse H 94 verpflichten uns, diese Sender nicht mehr zu empfangen.“

Der Empfang der Westsender durch die Ostjugend stellt ein erhebliches Problem für die Ost-Oberen dar. Der Direktor der Betriebsberufsschule HO Lebensmittel Friedrichshain macht sich im November 61 die Mühe, die Ansichten zu den „Nato-Sendern“ zu notieren und den Behörden Meldung zu machen. Dabei kommt der Schulleiter auf elf Meinungsäußerungen, die er selbst als „positiv“ einordnet. „Ich bin bis zum 13. 8. auch rübergegangen ins Kino und habe Schmöker gelesen“, sagt ein Schüler. „Wenn es aber nicht richtig ist, kann ich es auch lassen.“

Die negativen Kommentare

Doch es gibt in der Einschätzung des Direktors A. auch „negative“ Kommentare: „So schlecht waren die Filme drüben gar nicht. Ich weiß, viele, die drüben ins Kino gehen, sind auch keine Verbrecher geworden“, äußert sich ein Schüler. Ein anderer: „Musik ist international, sie ist unpolitisch.“ Oder: „Bei uns gibt es zu wenige gute Schlager. Alle sind gleich arrangiert.“ Dabei wird auch der DDR-Unterhaltungsstar Heinz Quermann zitiert, der gesagt habe, „Musik kennt keine Grenzen“. Auch sonst erweisen sich die Lehrlinge in ihren Fragestellungen als findig: „Dürfen wir Westsender hören, wenn wir die Sprache nicht verstehen (Musiksendungen)?“

Die Kritik in den Berufsschulklassen kommt auch unverblümt und scharf: „Erklären Sie uns, warum Karl-Eduard von Schnitzler Westklamotten trägt?“ – „Bei uns wird auch gegen drüben gehetzt.“ – „Wer hat das Recht, mir meine Freizeitbeschäftigung vorzuschreiben?“ – „Ich kann keine Verpflichtung abgeben, da ich den Rias doch höre.“

Die kritischen Bemerkungen gipfeln in einer Frage, die sich offenbar auf das neue Grenzregime bezieht: „Warum erhalten die Bewachungsmannschaften Kopfprämien und Auszeichnungen, wenn flüchtende Menschen von ihnen erschossen werden? Das ist doch nicht richtig.“

Der Schulleiter resümiert, dass die negativen Argumente den „heute noch starken Einfluss der Nato-Sender“ und teilweise auch die Meinung des Elternhauses widerspiegelten. Abschließend berichtet er: „Von den Lehrlingen wird vorgeschlagen, dass unsere Sender mehr Tanz- und internationale Jazzmusik aufnehmen und dass für Klubabende Tonbandausleihstellen geschaffen werden.“

„Ich bin mit der Mauer nicht einverstanden“

Die kritische Mehrheit der Jugendlichen an der Betriebsberufsschule HO Lebensmittel steht mit ihrer regimekritischen Stimmung nicht allein. Das zeigt ein mit Aktennotiz vom 27. 10. 1961 festgehaltener Vorfall aus der Polsterklasse in der Betriebsberufsschule Treff-Modelle, wo sich der Schüler K. weigert, die Selbstverpflichtung zu den „Nato-Sendern“ zu unterschreiben. „Er äußerte: Ich bin mit der Mauer nicht einverstanden. Sie ist unnötig. Außer der DDR gibt es kein Land auf der Welt, wo man nicht auswandern kann. Ich kann meine Schwester in Frankreich und meine Verwandten in Westberlin nicht besuchen. Die gesamte DDR ist ein KZ.“

Der Lehrer habe nicht sofort reagiert, sondern erst nach der Pause den Vorfall dem Direktor gemeldet. Der Schüler habe bei einer Anhörung bestritten, die gesamte DDR als KZ bezeichnet zu haben. „Auch die anderen Schüler der Klasse, die einzeln oder in Gruppen gehört wurden, konnten sich an diese Äußerung angeblich nicht erinnern. Der Lehrer Sch. blieb bei seiner Angabe. Der stellvertretende Kreisschulrat G. suspendierte den Schüler vom Schulbesuch. Der Stadtbezirk wird weitere Maßnahmen einleiten. Die gesamte Klasse hat sich geweigert, eine Erklärung gegen das Sehen und Hören der Nato-Sender abzugeben.“

Der stellvertretende Kreisschulrat in Friedrichshain fasst am 2. November 61 in einem „Kurzbericht“ Geschehnisse nach dem 13. August in den Berufs- und Betriebsberufsschulen zusammen. Vier Punkte umfasst dieser Vermerk. Danach wurde, erstens, im BGW, dem Berliner Glühlampenwerk Narva, ein Lehrling seiner Funktion als FDJ-Gruppensekretär und Lernaktivleiter enthoben, nachdem er sinngemäß gesagt haben soll: „Man sollte die Rohre der Panzer absägen und die Soldaten zur Arbeit schicken.“

In der Betriebsberufsschule „Fortschritt“ soll sich, zweitens, eine Schülerin sinngemäß so geäußert haben: „Walter Ulbricht ist sich seines Lebens nicht mehr sicher, er läuft täglich mit der Pistole herum.“ Ferner wird, drittens, aus der BBS des VEB Energiekombinats „Ernst Zinna“ berichtet, dass der Lehrling Klaus L. in der Nacht vom 31. 10. zum 1. 11. „an der Staatsgrenze gestellt (wurde), als er versuchte, schwimmend Westberlin zu erreichen“.

Abweichende Jugendlich auf die Linie bringen

Und schließlich kann sich der stellvertretende Schulrat Sch. noch, viertens, selbst rühmen. In der Berufsschule für Wirtschaft und Verwaltung habe er „anlässlich einer Hospitation 2 Schülerinnen nach Hause geschickt, da sie Original-Niethosen mit dem sichtbaren Schild der Herstellung in Westberlin bzw. USA trugen. Die übrigen Schüler distanzierten sich in einer FDJ-Versammlung von der Haltung der beiden Mitschülerinnen.“

Die DDR wird versuchen, auch die abweichenden Jugendlichen auf Linie zu bringen. Sie wird dafür ein engmaschiges Überwachungssystem etablieren. Und doch: Der 13. August war kein 17. Juni – viele Unzufriedene waren längst rüber in den Westen, als sich die Mauer schloss. Den Kritischen steckte die Erinnerung an die Niederschlagung des Volksaufstandes acht Jahre zuvor noch in den Knochen. Und so waren die Schüler jener Tage der Rente näher als dem Abitur, als sie erstmals wieder in ein Kino im Westen gehen durften. Nietenhosen gab’s schon früher.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • JE
    Jan Engelstädter

    Ein Mosaiksteinchen mehr für die Aussage: "Kommunismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!"

     

    @Ost und Wes-Berlin:

    Der qualitative Unterschied zwischen dem erzwungenen Abbruch einer Berufsausbildung und der Nichteinstellung in den Öffentlichen Dienst ist Ihnen bewußt?

    Ohne die West-Berufsverbote schönreden zu wollen, bleibt einfach anzumerken, daß sie nur diejenigen ~20% der Bevölkerung betreffen konnten, die Staatsdiener werden wollten, während das totale Ende der Karriere als Drohung allen nicht-SED-konformen DDR-Bürgern drohte.

     

    q Ex-Berliner:

    Von wannen kömmt Euch diese Weisheit, daß die Berliner S-Bahn im Besitz einer alliierten Treuhandgesellschaft war? Gibt es dazu irgendeinen Beleg?

    Daß viele Westdeutsche, die Berlin nur von Klassenfahrten her kannten, [...] auf die neue rechte Propaganda hereinfallen.", mag ja sein, aber in allererster Linie war der Mauerbau ein Verbrechen an den Ostdeutschen, denen damit die Chance genommen wurde, auch bei Äußerung der eigenen statt der Partei-Meinung ohne erhebliche persönliche Nachteile weiterexistieren zu können. Deswegen kommt es aus meiner Sicht auf westdeutsche (und Westberliner) Äußerungen und Sichten zum Mauerbau eher weniger an. Dort gab es nämlich keinen Schießbefehl.

  • E
    Ex-Berliner

    Ach ja und nun werden wieder die alten Geschichten herausgekramt. War jemand von den Kommentatoren dabei, als die Mauer gebaut wurde? Kann sich jemand noch daran erinnern, was für eine Stimmung in West-Berlin herrschte? Uns Schülern wurde verboten mit der S-Bahn zur Schule zu fahren, weil der DGB den idiotischen S-Bahn Boykott ausgerufen hatte. Dabei wurde verschwiegen, dass die S-Bahn, wie in Hamburg, einer Treuhandgesellschaft gehörte, die im Besitz der Allierten war. Von wegen sowjetzonal. Dagegen kam in West-Berlin eine inquisitorische Stimmung auf, die bis in die frühen Siebziger Jahre reichte.

     

    Es war der kalte Krieg und in Berlin wirkte noch das Blockade-Trauma. Auch ein Willy Brandt hat dieses Klima weidlich für seine egoistischen Zwecke ausgenutzt um sich auf Kosten der Bevölkerung zu profilieren. Wie übrigens die anderen maßgeblichen Politiker jener Zeit auch.

     

    Der Mauerbau diente nicht nur der Abschottung, sondern bot den Westallierten einen willkommenen Abbau der Spannungen im Krisenherd Westberlin. Das hat übrigens die Bevölkerung erst recht verbittert und deshalb kam J.F. Kennedy auf die Idee die sentimentale Parole: "Ich bin ein Berliner..." vom Balkon des Schöneberger Rathauses, wo heute SAT1 die "Familienfälle" produzieren lässt, auszurufen. Das fiel natürlich bei der rührseligen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Es waren über 10 Jahre eines politischen Irrsinns. Die DDR ist da nur die eine Seite. Erst in den Siebziger Jahren mit der neuen Ostpolitik setzte eine sehr langsame Normalisierung ein.

     

    Es ist verständlich, wenn viele Westdeutsche, die Berlin nur von Klassenfahrten her kannten, dies nicht nachvollziehen können und auf die neue rechte Propaganda hereinfallen.

  • TS
    Thomas Schmidt

    Mauerbau auch aus Gründen der Geheimhaltung

     

    Die Gründe des Mauerbaus führten letztendlich zu ihrem Fall. Mia. wurden in Ausbau und Sanierung gesteckt: 1400 km innerdeutsche Grenze, 160 km Mauer. Sie wurde nicht allein errichtet, um die DDR-Bürger im Land festzuhalten.

    Die DDR wurde schon in den sechziger Jahren mit militärischen Standorten übersät – Atom- oder Führungsbunker wuchsen wie Trüffel. Noch 1989 investierte man – ein Schlag ins Kontor der DDR-Wirtschaft.

    Nur ein kleiner Personenkreis war informiert. Auch darauf waren die Aktivitäten des KGB und der Stasi gerichtet - mit Mauer u. innerdeutscher Grenze war die geheimdienstliche Kontrolle effektiver.

     

    Trauriges Kapitel: Maueropfer.

    Schon 1964 war die Mauer mit einer Festung zu vergleichen – gut sichtbar in Berliner Grenzgebieten, wenn man sich dort hineinmogelte: Stacheldraht, Unterkriechschutz u. Bewacher in Zivil, Grenzhelfer genannt. Sie waren äußerst gefährlich. Viele der Maueropfer kannten die Gefahren nicht ...

  • OU
    Ost und Wes-Berlin

    Zitat "... Wer sich wehrte oder seine Meinung äußerte, wurde aus der Schule geworfen. ..." So lange nicht adäquat in Westberlin investigativ recherchiert und die dunklen Seiten von Westberlin auf den Tisch, in die taz kommen, damit Alle informiert werden, so lange kann man(n) in der taz mit nacktem Finger auf die DDR-BürgerInnen zeigen und sich echauffieren.

    Im Westen und in Berlin gab es wohl kein Berufsverbot? Wurden im Westen und in Berlin >West> nicht auch junge Menschen aus reichen Haushalten beim Bildungs-/ ergo: beim gesellschaftlichen Aufstieg beVORzugt??? Mir liegen hier zahlreiche ZeugInnen-Aussagen vor.

  • S
    saalbert

    "Schüler nicht mehr in ihre Klassen, Lehrlinge nicht mehr an ihren Ausbildungsplatz." - Schüler haben "Klassen", aber Lehrlinge "einen Ausbildungsplatz". Zumindest den Lehrlingen wird mit der Grammatik gerecht geworden.

    "kein Westradio oder -frnsehen" - Kein gutes Programm: "frnsehen".

  • P
    Petra

    Inmer wieder erschreckend zu was der Sozialismus fähig war und traurig das sich die SED 2 mal umbenennen durfte um ihre politischen Spuren zu verwischen. Da hoffe ich das die restlichen Parteien daran erinnern, wenn es darum geht einer Partei mit dieser Tradition von der Regierungsbeteiligung fern zu halten. Mit Sozial und menschlicher Politik hatte das reale Wirken dieser Partei nichts zu tun. Da haben SPD,Grüne, FDP, CDU etc. den Menschen mehr gegeben. Das sollte nicht vergessen werden. Der Kampf gegen rechts sollte hier Beispiel sein.