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Ausbruch aus UntersuchungshaftPanzerknacker auf der Flucht

Untersuchungshäftling Amar S. flieht aus seiner Zelle im Bremer Landgericht, mit Seil und Werkzeug. Woher die stammen, ist völlig unklar - wo S. ist auch

Das dicke Gitter hielt Amar S. nicht zurück: Die Zelle Nr. 5 im Landgericht Bremen. Bild: Justizsenator

Die Zigarettenschachtel und der Aschenbecher liegen noch auf der hölzernen Bank. Die Alu-Schale mit dem Gefängnisessen, die Boulevardzeitung, das Cola-Mischgetränk – in der Zelle Nummer fünf für Untersuchungshäftlinge des Landgerichts Bremen ist alles noch da. Nur Amar S. nicht.

Der 23-Jährige ist am Donnerstag durch das vergitterte Fenster aus dem ersten Stock im Landgericht getürmt und weiterhin flüchtig. Die Polizeifahndung läuft, das Justizressort untersucht das Sicherheitskonzept. Nur erklären, wie Amar S. abhauen konnte, kann bislang niemand.

„Wir stehen vor einem Rätsel“, sagt Justizsprecher Thomas Ehmke. Das Fenster der Zelle, in die Amar S. am Donnerstag gegen 10 Uhr nach seiner Hauptverhandlung geführt wurde, stand zwar offen. Einfach hinausklettern konnte er deshalb aber nicht: Davor ist ein zentimeterdickes Stahlgitter fest in der Wand verankert, ein engmaschiges Metallgeflecht verhindert zusätzlich das Hindurchgreifen.

Wegen schweren Bandendiebstahls stand S. seit Januar vor Gericht, er gehörte zu einer vierköpfigen „Panzerknacker“-Bande, die zahlreiche Tresore in der Stadt aufgebrochen haben soll. Ihm drohte eine Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren.

Nun knackte Amar S. das Schloss des Fenstergitters an der Zellenwand. Er entfernte die dicken Blechbeschläge, öffnete das Gitter und ließ sich an einem daumendicken, etwa zwei Meter langen Seil in einen Hinterhof hinab. Dort wird der Müll des Landgerichts gelagert, die Tür zur Buchtstraße war nicht verschlossen. „Aus Feuerschutzgründen“, erklärt Justizsprecher Ehmke. Der geht davon aus, das Amar S. das schwere Schloss nicht ohne ein Werkzeug hätte aufbrechen können. Angebracht ist der Beschlag mit Spezialschrauben – an die passenden Schraubendreher gelange eigentlich nur Justizpersonal.

Gefunden aber wurde nichts. Nur das Seil war noch an dem Gitter festgeknotet, als ein Justizmitarbeiter Amar S. um 10.45 Uhr aus seiner Zelle holen will.

Wie Werkzeug und Seil in den Haftraum gelangen konnten, wird noch untersucht. „Es muss davon ausgegangen werden, dass er Hilfe hatte“, so Ehmke. Dabei ist der Weg von der JVA Oslebshausen in die Tagesstation der JVA am Landgericht, zumindest der Theorie nach, lückenlos gesichert. Wie alle anderen Untersuchungshäftlinge sei S. am Donnerstagmorgen mit einem Gefangenentransporter in den Schleusenbereich im Innenhof des Gerichts gefahren worden.

In Oslebshausen sei er vorher durchsucht worden, die Handschellen wurden ihm erst abgenommen, als er in der Zelle im ersten Stock eingeschlossen wurde. Bevor er in den Gerichtssaal durfte, sei S. abgetastet und mit dem Metalldetektor gecheckt worden, ganz nach Routine. Das gleiche, als er aus dem Gericht kam. Die fünf Zellen selbst sind nicht von Kameras überwacht, wegen der Toiletten und der Privatsphäre, würden aber regelmäßig nach jeder Belegung durchsucht. Auf eine Pflichtverletzung seitens des Justizpersonals gebe es „keinerlei Hinweise“, so Justizsprecher Ehmke. In der kommenden Woche würden alle, die mit Amar S. zuletzt Kontakt hatten, umfassend befragt.

S. wurde schon mehrfach verurteilt, zumeist wegen Diebstahls, auch wegen gefährlicher Körperverletzung. Mit 14 war er das erste Mal in Haft und verbüßte eine über zweijährige Jugendstrafe. Seit Juli saß er in Untersuchungshaft in der JVA Oslebshausen, gemeinsam mit drei weiteren Angeklagten, die zwischen 23 und 35 Jahre alt sind.

S. kannte den Trakt, kannte das Treppenhaus, mit Stäben vor jedem Fenster, die metallbeschlagenen Türen der Hafträume. Es war der 38.Verhandlungstag.

Der Prozess gegen die Bande soll auch dann weitergehen, wenn S. nicht wieder gefasst werden kann. Die Polizei hofft auf Hinweise aus der Bevölkerung, warnt aber davor, S. zu nahe zu kommen, weil er gefährlich sei. Der nächste Verhandlungstermin ist der 28. August 2012. Dann werden zumindest die Kumpanen von S. wieder in eine der Zellen im Landgericht geführt.

Vielleicht auch in Zelle Nummer fünf. Oder in die Zelle gegenüber. „Ich wahr hier“ (sic) hat jemand dort an die Wand geschrieben.

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1 Kommentar

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  • OM
    Oliver Meier

    Als würde der Umstand, dass Bremen über Jahrzehnte kein geeignetes Rezept gegen die anwachsende Intensivtäter-Struktur in dieser Stadt entwickeln konnte, nicht schon reichen. Nun auch noch Sozialromantik innerhalb des Gewahrsams im Gerichtsgebäude. Wenn in Bezug auf die Raumüberwachung durch Kameras der Privatsphäre gefährlicher Untersuchungshäftlinge ein größerer Vorrang eingeräumt wird als den Opfern, die nun nach Ausbruch durch einen möglichen Kontakt mit dem Flüchtigen geschädigt werden, dann liegt hier gewaltig etwas in Schieflage. Was sich Bremen im Bereich der Justiz erlaubt, nähert sich dem Gegenteil von dem, was einen funktionierenden und aktzepierten Rechtsstaat ausmacht. Wo bleibt bei dieser Entwicklung eigentlich unser Justizsenator Martin Günthner? Oder unser Bürgermeister und ehemaliger Richter Jens Böhrnsen? Gibt es hier irgendeine Initiative, die uns effektiv vor der hohen Anzahl von Intensivtätern schützen könnte?