Rassistische Überfälle in Indien: 15.000 Menschen auf der Flucht
Aus Angst vor gewaltsamen Übergriffen verlassen tausende Angehörige ethnischer Minderheiten in Indien ihre Arbeitsorte. Sie fliehen in ihre nordöstliche Heimat.
DELHI taz | Für einmal signalisierte Indiens Parlament Geschlossenheit. Am Freitag erhoben sich Abgeordnete aller Parteien im Oberhaus, um ihr Verständnis und Beileid gegenüber der Bevölkerung Nordostindiens auszudrücken. Zuvor hatte Premierminister Manmohan Singh im Parlament für die Minderheiten im Nordosten gesprochen: „Dieses Land gehört ihnen wie allen anderen.“
Doch genau daran zweifeln dieser Tage viele Inder, die nicht wie gewöhnliche Inder aussehen, sondern mehr wie Tibeter, Chinesen oder Thailänder. Statt an ihren über ganz Indien verteilten Studien- oder Arbeitsorten zu bleiben, fliehen sie derzeit lieber zurück in ihre Heimat. 15.000 waren es bis Freitag nach offiziellen Angaben.
Ein Ende der Massenflucht ist nicht in Sicht. Die meisten sind Studenten. Sie nehmen Sonderzüge, die ihnen die indische Bahn seit Mittwoch zur Verfügung stellt. Oder das Flugzeug. Weil sie Angst vor ethnisch, rassistisch oder religiös motivierten Gewaltakten haben.
Die Nordostprovinzen Indiens liegen östlich von Bangladesch, weitab von den urbanen Zentren des Landes. Sie heißen Assam, Arunachal Pradesh, Nagaland, Manipur, Meghalaya, Tripura und Mizoram. In jeder von ihnen leben Urvölker, die bis zur Unabhängigkeit Indiens kaum etwas mit ihrem heutigen Land zu tun hatten. Seither versucht Indien sie mit Minderheitenprogrammen zu integrieren. Diese sorgen zum Beispiel dafür, dass viele junge Leute aus dem Nordosten in Indiens Großstädten Studienplätze bekommen. Meist zum Ärger der Einheimischen.
Aufgrund der Massenflucht hat das indische Innenministerium am Freitag für 15 Tage landesweit den Massenversand von SMS verboten. Während dieser Zeit können keine Text- und Multimedia-Nachrichten vom Handy an mehr als fünf Empfänger gleichzeitig geschickt werden. Ausgelöst wurde der Exodus von Gerüchten über Gewalt gegen Menschen aus der Region, die über Kurznachrichten und soziale Netzwerke verbreitet wurden. In den Gerüchten wird über Racheakte von Muslimen für ethnische Zusammenstöße in Assam spekuliert. Bei den Zusammenstößen zwischen meist hinduistischen Angehörigen des Bodo-Stammes und muslimischen Siedlern wurden seit vergangenem Monat mehr als 70 Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt.
Man mochte sich nicht. Deshalb bilden die Nordostler in Indiens Großstädten in der Regel eigene Cliquen. Doch von Gewalt gegen sie war bis zu dieser Woche keine Rede.
Bodos gegen Muslime
Der Funke sprang über, als im Juli die Nordostler aus Bodoland in Assam gegen muslimische Siedler vorgingen. Die Bodos sind typische Nordostler, ein ehemals unabhängiges Bergvolk, das bis heute seine Unabhängigkeit fordert. Seit den 70er-Jahren werden die Bodos vom Zustrom muslimischer Siedler aus Bangladesch bedrängt, den Indien toleriert. Im Juli gab es bei einem Bodo-Aufstand 80 Tote. 400.000 Menschen, in der Mehrzahl Muslime, wurden vertrieben. Deshalb grollen seither Indiens Muslime.
Am vergangenen Wochenende schlug dieser Groll in Gegengewalt um. 50.000 Muslime demonstrierten in Mumbai (Bombay) gegen die Gewalt von Bodos in Assam. Zwei Menschen starben, dutzende wurden verletzt. Am gleichen Wochenende berichteten Studenten aus der Universitätsstadt Pune unweit Mumbais, dass sie aufgrund ihrer Herkunft aus dem Nordosten von anderen auf der Straße angegriffen worden waren.
Später berichtete ein Tibeter in Bangalore, dass auch er wegen seiner vermeintlichen Herkunft aus dem Nordosten geschlagen worden sei. Bald darauf zeigte eine Studentengruppe in Bangalore 25 ähnliche Überfälle an. Mehr war offenbar nicht nötig. Trotz Beschwichtigungsversuchen von Politikern aller Ebenen setzte sich der Fluchtzug in Gang.
Noch immer ist nicht überschaubar, ob es außerhalb des Nordostens wirklich systematisch zu Gewalt gegen Leute von dort kam. Deutlich aber wurde, wie groß die Angst und Unsicherheit dieser Leute ist, wenn sie schon beim kleinsten Verdacht einer Gewaltwelle gegen sie in den Zug nach Hause steigen. Das Misstrauen ist gegenseitig. Auch deshalb stationiert Delhi noch hunderttausende Soldaten im Nordosten. Sie sollen vor Aufständen schützen. Das ist ihnen diesmal nicht gelungen.
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