Neues Album von Animal Collective: Ist das schon Rock?
Animal Collective sind keine Verzagten, die leise in ihr Bier weinen. Das hört man auch auf ihrem neuen Album „Centipede Hz“.
Anschwellendes Dröhnen von Schallwellen. Aus weiter Ferne dringt das Echo eines Jingles: „Hallo Genussradler, heute schon …“ Sich überlagernde Radiosender, ein Gewirr aus Stimmen, Melodien, Signaltönen, so brodelt das weiße Rauschen aus dem Äther. Willkommen auf der Sonic Ranch, unterwegs im All. Wo Gesteinsbrocken den Weg weisen, feuchte Höhlenluft weht und Geologen in Raumanzügen und Helmlampen nach dem Rechten sehen. Wellenförmig windet sich ein Tausendfüßler-Alien mit unzähligen behaarten Beinchen und zwei nassen Fühlern. Oder war’s ein Ferrero Küsschen?
Im nächsten Moment sind wir in einer riesigen Penny-Arkade gestrandet, Teppichboden dämpft die Geräusche, softe Beleuchtung verschleiert die Tageszeit. Die tibetanische Mönchsmuzak im Hintergrund raubt den letzten Nerv. Menschen, die statt Köpfen Suhrkamp-Wissenschaftsbände auf dem Hals tragen, sitzen auf Barhockern vor Videospieltruhen, nuckeln Energy-Drinks und versuchen vergeblich den Highscore von „Centipede Hz“ zu knacken, einem analogen Game in matschigen Technicolor-Farben und Quietsche-Soundtrack.
So verworren klang es letzte Nacht. Heute morgen fühlt sich „Centipede Hz“, das neue Album der US-Band Animal Collective, schon vertrauter an. Ihr Raumschiff ist gerade gelandet und unten auf der Erde klingt die Musik zielgerichteter und, wie soll ich’s sagen, aufgedrehter, was die Grundstimmung und die Volume-Regler der Verstärker angeht.
Bisher galten Animal Collective ja als Antithese zu jeder Form von Indierock. Eine Art Bandsimulation im Computerzeitalter mit Gitarren, die durch Loop-Pedale gejagt werden, Sampler als Leadinstrument, Drumbeats zu einem Klopfzeichen verzerrt, und einem verteufelt engelsgleichen Gesang, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt.
Und dann auch noch ihr Bandname, der possierliche Gleichheit verheißt: Animal Collective. Jetzt erscheint mit „Centipede Hz“ ein Jam-Album, das analog entstanden ist, in einer Laboratoriumssituation, bei der die Musiker live gespielt haben. Ist das schon Rock?
Überlandfahrten auf dem Highway
Anders als der lichtscheue Tausendfüßler (engl. Centipede) im Titel suggeriert, ist „Centipede Hz“ Musik für gleißendes Tageslicht. Sie klänge am besten im Auto bei Überlandfahrten auf dem Highway, erklärt Bandmitglied Joshua Dibb alias Deakin. Sicher meint er das Marsmobil als Fortbewegungsmittel.
Dibb erteilt bereitwillig Auskunft über Motive und Klanggrundierungen von „Centipede Hz“. Vielleicht, weil er nach einem Sabbatical, das ihn das 2009 erschienene Vorgängeralbum „Merriweather Post Pavillon“ und die anschließende Tour verpassen ließ, inzwischen neue Schaffenskraft geschöpft hat. Für „Centipede Hz“ ist er zur Kernband um David Portner (Avey Tare), Noah Lennox (Panda Bear) und Brian Weitz (Geologist) zurückgekehrt, singt, bedient die Gitarre und hat zahlreiche Songs arrangiert. Und zeichnet auch für die überwältigende und hypernervöse Ekstase der Musik mitverantwortlich.
sonntaz
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Das „Hz“ im Albumtitel steht für Hertz. Und die Schwingungen sind so hoch, dass eigentlich Megahertz gemeint sein müsste. Animal Collective sind keine Verzagten, die leise in ihr Bier weinen: Die vier US-Musiker, inzwischen weit verstreut voneinander lebend, wissen exakt, wann sie wie und mit wem auftauchen, um das am meisten verschachtelte Popalbum des Jahres einzuspielen.
Aufgenommen wurden die elf Songs in einem texanischen Studio namens Sonic Ranch, aber konzipiert ist „Centipede Hz“ in Baltimore, der alten Heimat der Band. Ein Animal-Collective-Song funktioniert meist mit zwei gegensätzlichen Elementen, die gleichzeitig zum Einsatz kommen: blauäugige Melodien und wüste Breaks, Gesangsharmonien und fiese Loops, Ungetrübtheit im musikalischen Vortrag und nervöse, der kurzen Aufmerksamkeitsspanne geschuldete Parts, die im Sekundentakt ergänzt und abgeändert werden. Die Musik vereint die Sehnsucht nach der Unschuld von Pop und das Wissen, dass es unmöglich ist, diese auch nur ansatzweise zu rekonstruieren.
Alle vier Musiker sind gleichbedeutend am Entstehungsprozess der Songs beteiligt. „Manifest in unserer Musik ist Reibung, der Kampf, der beim Ausarrangieren ausgefochten wird, aber auch der Wille, diese Spannungen bis zum Ende durchzufechten“, sagt Dibb. Warten wir ab, ob „Centipede Hz“ wie das Vorgängeralbum hoch in die Charts einsteigt oder als kreative Kehrtwendung in anderen Galaxien weiterlebt.
Am furiosesten gelungen ist die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Song „Wide Eyed“, einem Tausendfüßler-Space-Boogie mit Snoozetasten-Weckerteil, der am Ende in sich zusammenfällt wie ein wackliges Gedankengebäude. Die Beschreibung eines Wach-Schlaf-Zyklus, der alle Wach-Schlaf-Zyklen ein für alle mal beschließt. „Ein Liebeslied“, gesteht Josh Dibb, steigt wieder in seinen Raumanzug und schwebt davon.
Animal Collective „Centipede Hz“ (Domino/Good to Go)
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