Abstimmung über Spitzenkandidaten: So funktioniert die Urwahl
Wie die Abstimmung verlaufen soll und warum dieses Instrument so ganz neu nicht ist: Bei der SPD wurde so 1993 Rudolf Scharping zum Parteichef.
BERLIN taz | Was aus der Not heraus geboren wurde, ist plötzlich das wichtigste Werbeinstrument: Die Grünen seien „die erste Partei in Deutschland, die ihre Mitglieder basisdemokratisch und bindend über die Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl entscheiden lassen“, sagte Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke am Sonntag stolz. Dass ihre Partei vor allem deshalb auf Basisdemokratie setzt, weil sich ihre Spitzenleute nicht auf ein Team einigen konnten, soll vergessen sein.
Darum geht es bei der Urwahl: Die gut 59.000 Grünen-Mitglieder dürfen über ein quotiertes Duo abstimmen, welches die Partei im Bundestagswahlkampf vertreten soll. Beworben haben sich bisher die Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin und Renate Künast, die Parteivorsitzende Claudia Roth, Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt und die beiden bundesweit unbekannten Kommunalpolitiker Werner Winkler und Franz Spitzenberger.
Quotiertes Duo heißt: Erlaubt sind die Kombinationen Mann/Frau oder Frau/Frau – zwei Männer dürfen nicht vorne stehen. Die beiden KandidatInnen sollen die Partei „in herausgehobener Position vertreten“ und die Wahlkampfstrategie und -kampagne mitverantworten, heißt es im beschlossenen Leitantrag.
Außerdem sind die Spitzenplätze Sprungbretter für Ministerämter, falls es die Grünen 2013 in eine Regierung schaffen. Dies dürfte das wichtigste Motiv für das Interesse der KandidatInnen sein. Für Trittin, Künast oder Roth gilt die kommende Wahl vielen Grünen als letzte Chance, um in ein Regierungsamt zu kommen.
Die Basisabstimmung kostet die Grünen 90.000 bis 100.000 Euro. Das Verfahren läuft in mehreren Stufen ab. Bis zum 16. September können sich weitere Interessenten melden. Danach organisieren die Landesverbände Veranstaltungen, auf denen sich die BewerberInnen vorstellen. Spätestens am 9. November soll ein Ergebnis vorliegen.
Ganz exklusiv haben die Grünen die Urwahl über Personal übrigens nicht: 1993 veranstaltete die SPD eine Urwahl, um den Parteichef zu bestimmen – Rudolf Scharping setzte sich gegen Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durch. Auch Niedersachsens SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil gelangte 2011 per Urwahl zu seiner Spitzenkandidatur.
Leser*innenkommentare
Jörg
Gast
So viel zum Thema Gleichberechtigung von Frau und Mann. Jetzt haben die Frauen es bei den Grünen geschafft, sie sind gleicher als die Männer. Die politisch korrekt Formel müsste bei einer Doppelspitze doch wohl heissen: je eine Frau und ein Mann.
Tobias
Gast
"Quotiertes Duo heißt: Erlaubt sind die Kombinationen Mann/Frau oder Frau/Frau – zwei Männer dürfen nicht vorne stehen."
Wer derartige sexistische Regeln aufstellt ist unwählbar! Was bitte hat das mit Gleichberechtigung zu tun?
Das ist wie Bewertungssofa.
reblek
Gast
"Ganz exklusiv haben die Grünen die Urwahl über Personal übrigens nicht: 1993 veranstaltete die SPD eine Urwahl, um den Parteichef zu bestimmen – Rudolf Scharping setzte sich gegen Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durch." - Und zwar, weil sie in der SPD nicht zählen können. Scharping hatte lediglich eine relative Mehrheit und hätte in einer Stichwahl ganz sicher verloren. Dann hätte die SPD mit Schröder noch früher gezeigt, was in ihr steckt und wofür sie sich alles hergibt.
Bitbändiger
Gast
Vielen Dank, lieber Ulrich Schulte, für den sachlichen und hämefreien Bericht. Wobei es mir jetzt gar nicht darum geht, dass es zufällig die Grünen betrifft: Das Thema "Spitzen-" bzw. "Kanzlerkandidaten" demonstriert - unabhängig von Parteipräferenz - seit vielen Jahren den erschreckenden Qualitätsverfall beim größten Teil des deutschen Journalismus.
In demokratischen Parteien sollte es eigentlich als selbstverständlich gelten, dass Spitzenpersonal von demokratisch zustande gekommenen Gremien oder gar von der Gesamtheit der Mitglieder gewählt wird. Und dass "Wahl" selbstverständlich "Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen" bedeutet. Und dass es einer Partei selbstverständlich freisteht, den geeigneten Zeitpunkt für solche Festlegungen nach eigenem Gutdünken zu bestimmen.
Statt dessen hat sich die Pressemeute angewöhnt, regelmäßig schon Jahre vor anstehenden Wahlen eine Festlegung auf Spitzen-/Kanzlerkandidaten zu fordern und sich mit all dem Klamauk um dieses inhaltsleere Thema vor der Befassung mit INHALTEN (die ja in der Tat erheblich mehr journalistisches Gehirnschmalz, Recherche und Sachverstand erfordern würde) erfolgreich zu drücken. Und spätestens, sobald das Thema "Spitzen-..." abgehakt ist, liefert die Frage nach der Koalitionsarithmetik, notfalls über den "Schließen-Sie-Aus?"-Umweg, aber stets Seitenblicke auf mögliche Inhalte vermeidend, den nächsten Vorwand.
Meine Vorstellungen von Journalismus sind andere.
Lex
Gast
Was mich hier wieder stört ist die offensichtliche Diskriminierung von Männern, weil reine weibliche Führungsspitzen zugelassen sind, aber reine männliche nicht.
Das führt nur wieder zu einer unsinnige Diskussion um Quote, die eigentlich dazu da ist Diskriminierung zu vermeiden. Die Grünen tragen dazu bei eine wichtiges und mächtiges Instrument zu zerstören, indem sie viele verärgern, die nicht verstehen können, warum Quote wichtig ist, indem Frauen über Männer gestellt werden. Das kann es doch nicht sein???
Ebenfalls ist die reine Frauenquote lächerlich, deswegen lieber eien Geschlechterquote (dass mindestens X% von beiden Geschlechtern dabei sind). Die Mindestangabe muss natürlich varieren, da es leider utopisch ist 50% Erzieher in staatlichen Kindergarten zu bekommen oder 50% Soldatinnen. Dann können auch die Männer nicht diskriminiert werden von Quotenseite, da die auch dabei sein müssen,... Ebenfalls wird auch deutlich gemacht, dass es auch Bereiche gibt indenen Männer strukturell bedingt unterrepresentiert sind,...
Soviel von mir, die nicht Deligierte wurde, weil sie eine Frau war und ihren Platz zugunste eines Mannes räumen musste,... Die Geschlechterquote ist die ehrlichere Quote, weil sie auch Männern zugesteht, dass sie manchmal unterrepresentiert sind.
tazitus
Gast
"..Bei der SPD wurde so 1993 Rudolf Scharping zum Parteichef..."
Ein Meilenstein für die Erforschung der Schwarmintelligenz.
Ulli Müller
Gast
Das Ergebnis der Urwahl in der SPD (für Scharping) sollte für alle Warnung genug sein, oder?