(Über)leben in Berlin (Teil 10): "Wir Busfahrer sind Einzelkämpfer"
Erol Celik sitzt für die BVG hinter dem Lenkrad. Das will er noch bis zur Rente tun - auch wenn ihm Zeit und Geld für seinen Traum fehlen: den Asphalt gegen Wasser und den Bus gegen Jet-Ski zu tauschen. Seine Selbsteinschätzung: "Nicht ganz oben, nicht ganz unten - irgendwo in der Mitte".
Wie heißen Sie?
Nennen Sie mich Erol Celik.
Seit wann leben Sie in Berlin?
Die Serie: Wie überlebt man in Berlin? Anders als anderswo, das ist klar. Berlin hat kaum Industrie und finanzkräftige Unternehmen, Vollzeitjobs von 8 bis 16 Uhr sind nicht der Normalfall. Berlin ist Vorreiter neuer Wirtschaftsstrukturen, Boomtown, Hauptstadt der Kreativen und Gründer - und als Stadt mit den meisten Arbeitslosen zugleich Hauptstadt des Prekariats. Die taz hat sich umgeschaut und dokumentiert in der Sommerserie "(Über)Leben in Berlin", wie BerlinerInnen arbeiten und wirtschaften. Immer mittwochs erscheint ein Interview, geführt anhand eines standardisierten Fragebogens, das den Alltag in einer bestimmten Branche abbildet.
Die Person: Erol Celik, 46, ist seit zwei Jahren Busfahrer bei der BVG.
Das Berufsfeld: Die BVG beschäftigt derzeit rund 2.500 Busfahrer, ein Tochterunternehmen weitere 1.600. Laut Tarifvertrag liegt das Grundgehalt für beide Gruppen zwischen 1.826 und 2.023 Euro brutto. Hinzu kommen Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit in Höhe von 25 Prozent. Die tägliche Arbeitszeit beträgt maximal 8,5, die wöchentliche 39 Stunden. Die 520 U-Bahn- und 760 Tramfahrer befinden sich in der gleichen Einkommensgruppe. Bei der S-Bahn verdient man deutlich besser: Ausgebildete Zugführer erhalten zwischen 2.430 und 2.939 Euro brutto. Durchschnittlich kommen 335 Euro brutto für Nacht- und Sonntagsdienste dazu.
Wie man BusfahrerIn wird: Wer mindestens 21 ist und zwei Jahre Pkw-Fahrpraxis hat, kann eine 110-tägige Kompaktausbildung absolvieren. Sie kostet 6.500 Euro. Eine zweite Möglichkeit ist die Berufsausbildung zur Fachkraft im Fahrbetrieb, bei der man zuerst den Pkw-Führerschein macht und nach zwei Jahren im Personenverkehr eingesetzt wird. Azubis erhalten zwischen 750 und 850 Euro brutto.
1985 kam ich aus Istanbul hierher, denn dort war es wegen des vorherigen Militärputsches problematisch. Mein Vater lebte hier holte uns dann alle nach Deutschland.
Wie würden Sie die soziale Schicht bezeichnen, aus der Sie kommen?
Meine Eltern waren Bauern in der Türkei, sie haben von dem gelebt, was sie selbst erzeugt haben. Dann zogen sie 1961 nach München und sind später wegen der Berlin-Zulage hierhergekommen. Mein Vater hat alles Mögliche gemacht: Reifenfabrik, Palettenfabrik, am Ende arbeitete er beim Gartenbauamt. Meine Mutter war Hausfrau. Damals hatten wir ja die D-Mark, da konnte es sich jeder leisten, dass die Mama zu Hause bleibt und das Familienunternehmen bewirtschaftet.
Würden Sie heute gern woanders leben als in Berlin?
Nein, absolut nicht. Leider Gottes kämpfen wir seit 50 Jahren damit, dass wir immer wieder gefragt werden: Wann gehst du zurück? Das sind Wörter, die stören und machen jede Beziehung kaputt. Wohin soll ich denn zurückgehen? Aber das wird immer noch gefragt, und diese Frage wird speziell den Türken gestellt.
Wo arbeiten Sie?
Bei der BVG, als Busfahrer.
Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?
Ich habe ganz großes Glück gehabt. Bis vor einigen Jahren war ich in einer Zigarettenfabrik tätig, die dann aber in Konkurs gegangen ist. Ein netter Mitarbeiter des Arbeitsamtes hat mir dann die Umschulung zum Busfahrer vermittelt, dafür wurden vor allem Leute ausländischer Herkunft gesucht. Denn in Bezirken wie Wedding, Kreuzberg oder Neukölln, da arbeiten die deutschen Kollegen nicht so gern. Dafür nehmen sie dann lieber einen mit schwarzen Haaren wie mich.
Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit als Busfahrer von der in der Zigarettenfabrik?
Im Gegensatz zu früher habe ich jetzt viel mit Menschen zu tun. Das kann im Stadtverkehr auch stressig sein, gerade mit Radfahrern. Aber insgesamt ist es nicht so belastend wie die Arbeit in der Fabrik.
Würden Sie gern etwas anderes arbeiten?
Nein. Ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen werde ich meine Linien hoffentlich bis zur Rente fahren.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Zuerst mache ich mich frisch und ziehe meine weiß-blaue Arbeitskleidung an. Bei meiner Arbeit muss da alles sauber und gepflegt sein! Dann frühstücke ich ganz in Ruhe und fahre anschließend zu dem Ablösepunkt, der für diesen Tag auf meinem Plan steht. Dort übernehme ich den Bus bis Dienstschluss.
Ist Ihre Arbeit körperlich oder geistig anstrengend?
Geistig! Ich muss mich wirklich sehr, sehr konzentrieren. Denn die Radfahrer fahren zickzack. Und die Kurierdienste! Manche haben keine Bremsen und spielen mit ihrem Leben. Ein Busfahrer muss sich zu 200 Prozent konzentrieren.
Was mögen Sie an Ihrer Arbeit besonders?
Dass jeder Tag anders ist. Diese Vielfalt! Der Umgang mit den Menschen! Ich versuche, bei meinen Jungs eine klare Linie zu ziehen, damit sie sich im Bus benehmen: die mit ausländischer Herkunft, die etwas lauter Musik hören oder laut quatschen, weil das so eine aggressive Sprache ist, in der man jedes „r“ und „a“ betonen muss. Das ist typisch orientalische Mentalität! Aber wenn man mit ihnen spricht, dann kommen die klar.
Was mögen Sie nicht?
Die vorgesehenen Fahrzeiten zwischen den Haltestellen sind etwas kurz. Man muss schon ein bisschen zügiger fahren, um den Ärger der Fahrgäste zu vermeiden. Sonst fragen die: Wo waren Sie? Gucken Sie mal, ich hab meinen Anschluss verpasst! Auf der Fahrt kommt immer irgendetwas dazwischen: ein Feuerwehreinsatz oder ein Unfall. Ein Bus ist eben kein Smart, das dauert seine Zeit.
Wer kontrolliert Sie?
Unsere Gruppenleiter. Bei ihnen müssen wir uns regelmäßig sehen lassen und Gespräche führen. Ab und zu werden wir während der Fahrt kontrolliert, aber dafür muss es schon einen besonderen Anlass geben.
Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit ausreichend wertgeschätzt wird?
Leider nicht. Die Fahrgäste stellen sich unsere Arbeit ja ganz leicht vor.
Sind Sie schon angegriffen worden?
Nein, nicht ich mit meinem menschlichen Entgegenkommen. Diese Stimme, dieses Wissen, wo ich laut und wo ich leise und langsam spreche, das muss ein Busfahrer können. Mit aggressiven Worten auf die Jugendlichen zuzugehen, wie ich als Fahrgast das bei älteren Fahrern manchmal beobachte, das kann nicht funktionieren. Andererseits sehen die Fahrgäste auch nicht, ob ein Fahrer zu Hause zu viel Stress oder familiäre Probleme hat. Man sieht ja nur den sauberen weiß-blauen Anzug und vielleicht auf Knopfdruck ein Lächeln im Gesicht.
Mit wem kooperieren Sie?
Wir sind Einzelkämpfer. Wir nehmen unseren Bus und fahren damit, da ist kein Kollege, der danebensitzt oder hinter dir aufpasst. Du bist ganz auf dich allein gestellt.
Mit wem konkurrieren Sie?
Die BVG hat in dieser Hinsicht keine Konkurrenz. Wir werden gut ausgebildet an der Verkehrsakademie und machen regelmäßig Kurse zu Deeskalation und Verhaltenstraining. Es ist ja nicht jeder Fahrgast gleich.
Wie viele Stunden am Tag arbeiten Sie?
Zwischen sechseinhalb und achteinhalb Stunden.
Wie viele Pausen und Überstunden machen Sie?
An jeder Endhaltestelle haben wir acht bis zwölf Minuten Pause. Außerdem müssen wir noch eine große Pause von einer bis anderthalb Stunden machen, um die Konzentration zu erfrischen. Überstunden gibt es bei der BVG nicht.
Wie viel Urlaub haben Sie?
Das weiß ich so auf die Schnelle gar nicht genau. 28 oder 31 Tage.
Sind Arbeit und Freizeit klar getrennt?
Ja.
Welche andere Aufgaben haben Sie außer der Arbeit?
Ich bringe meine fünfjährige Tochter in den Kindergarten oder passe auf sie auf. Und ich unterhalte mich mit meinem Sohnemann. Der ist 21 und macht gerade eine Ausbildung, da braucht es ein bisschen Überwachung, was er so treibt. Außerdem gehe ich einkaufen oder räume mal den Keller auf.
Wie viel bekommen Sie pro Monat bezahlt?
Ungefähr 1.500 Euro netto.
Fühlen Sie sich angemessen bezahlt?
Es könnte ein bisschen mehr sein. Dieser ganze Stress, diese ganze Verantwortung: Ein kleiner Fehler kann Menschenleben kosten!
Wie viel Geld haben Sie im Monat zu Verfügung?
Insgesamt haben wir ungefähr 2.800 Euro. Meine Frau arbeitet als Hauswartin.
Wer lebt von diesem Geld?
Ich, meine Frau, meine Tochter und mein Sohn.
Was tun Sie, um Ihre materielle Situation zu verbessern?
Wir versuchen mit dem, was ich kriege, klarzukommen. Es reicht gerade mal so, Gott sei Dank.
Wofür geben Sie das Geld aus?
Für all das, was man alltäglich braucht. Ab und an für Geschenke, wenn jemand heiratet oder Geburtstag hat.
Haben Sie Rücklagen?
Nein. Unser Einkommen reicht nicht, um zu sparen. Da bräuchten wir mindestens 5.000 Euro im Monat, dann könnten wir vielleicht 1.500 beiseitelegen.
Reden Sie mit Freunden über Geld?
Nicht so viel.
Wer leiht Ihnen Geld, wenn Sie welches brauchen?
Fast jeder, den ich kenne. In dieser Hinsicht habe ich sehr, sehr gute Beziehungen. Wenn man eine gewisse Zeit mit Freunden verbracht hat, dann kennt man sich ja. Da brauche ich dann auch keinen schriftlichen Vertrag, da reicht das Wort. Denn wir würden es nicht ertragen, unser Gesicht zu verlieren. Wer seine Schulden nicht zurückzahlt, der kann sich mit dieser Scham nicht auf der Straße sehen lassen.
Wo wohnen Sie?
In Neukölln.
Würden Sie gern woanders wohnen?
Absolut nicht. Neukölln ist mein Favorit. Das ist ein Bezirk, der Zukunft hat. Die ganze Szene von Friedrichshain und Kreuzberg rutscht jetzt nach Neukölln. Demnächst wird das ein sehr guter Bezirk sein.
Wie viel Platz haben Sie in Ihrer Wohnung?
Wir haben 76 Quadratmeter: ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Zimmer für meinen Sohn. Unsere Tochter schläft bei uns, sie hat ein Hochbett mit einem Vorhang: Da will sie ihre eigene Welt haben, mit Barbies und Hello Kitty.
Wer macht den Haushalt?
Überwiegend meine Frau.
Wie viel schlafen Sie?
Sechs, sieben Stunden. Mehr kann ich auch gar nicht schlafen. Ich habe es schon versucht, aber das bekommt mir nicht, davon bekomme ich immer Kopfschmerzen.
Wann waren Sie zuletzt krank?
Vor anderthalb Jahren bin ich für eine Woche zu Hause geblieben. Aber das musste sein, denn ich habe ein Antibiotikum genommen. Aber mehr als leichte Kopfschmerzen und Schnupfen habe ich eigentlich nie.
Wer kümmert sich um Sie, wenn Sie krank sind?
Alle, die ich um mich habe. Vor allem meine Frau, aber auch mein Sohn. Selbst mein kleines Töchterchen kommt und fragt: Brauchst du Wasser? Hast du deine Medikamente genommen? Sie sieht das ja bei ihrer Mama und will dann dasselbe tun. Gott sei Dank habe ich solch eine Familie, sonst wäre es ja nicht zu ertragen.
Wer kümmert sich um Ihre Tochter, wenn sie einmal krank ist?
Meine Frau und ich. Wir haben da aber keine spezielle Regelung, wer was tun muss. „Muss“, dieses Wort passt nicht zu unserer Mentalität und auch nicht zu unserem Glauben. Alles, was man tut, soll von Herzen, mit Liebe kommen.
Was würden Sie gern machen, was Sie sich aus zeitlichen Gründen derzeit nicht leisten können?
Ich würde gern viel Boot fahren: zum Beispiel mit dem Motorboot raus aufs Meer. Oder Jet-Ski! Das würde mich schon reizen, jedes Wochenende an den Müggel- oder Wannsee rauszufahren und ein bisschen Gas zu geben. Aber das ist halt ein Luxus, und für den fehlen mir sowohl die Zeit als auch das Geld.
Haben Sie Angst vor Arbeitslosigkeit?
Ja. Ich weiß, wie das Arbeitsamt von innen aussieht, auch wenn mein Übergang in die Umschulung damals nahtlos gelaufen ist: Ich musste zu einem Einstellungstest nachweisen, dass ich sprechen, verstehen, schreiben und rechnen kann. Das hat sechs Monate gedauert, dann habe ich direkt für ein Jahr auf Probe angefangen. Das heißt: korrekt fahren, nicht geblitzt werden, nicht falsch parken. Gut, das Falschparken geht schlecht mit einem Bus, aber ich hab schon von Leuten gehört, die das fertiggebracht haben. Bei mir hat jedenfalls alles wunderbar geklappt, und ich habe einen festen Vertrag bekommen.
Können Sie sich vorstellen, nicht zu arbeiten?
Nein. Ohne Arbeit bekommst du psychische Probleme. Du weißt nicht, was du mit deiner Zeit machen sollst. Und irgendwann kommt dann ein Zeitpunkt, ab dem du Unsinn machst. Wir sehen das ja, hier gibt es viele Beispiele. Irgendeine Beschäftigung muss der Mensch haben.
Wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen geben würde, wie hoch müsste es Ihrer Ansicht nach sein?
Wenn man so guckt, was wir für die Kids kaufen und tun müssen: Kindergarten, Schule, Kleidung, Schwimmen, Musikunterricht, Ballett, Sport – das kostet alles Geld. In meiner Lage müsste eine Familie allermindestens 2.500 Euro haben.
Haben Sie schon mal Diskriminierung erfahren?
Ich erlebe sie tagtäglich. Nicht direkt, aber mit Blicken, Mimik und Gestik. Man spürt, ob man willkommen ist. Wenn ich in Ostbezirken fahre, dann gucken viele Fahrgäste erst mal sehr misstrauisch: Wo kommt der denn her, hat der sich verfahren? Wenn ich höre, wie sich Grundschüler bei mir im Bus darüber unterhalten, dass sie mit Neukölln oder Kreuzberg nix zu tun haben wollen, weil ihnen dort das Handy abgezogen wird von orientalischen Jugendlichen, dann stimmt doch da mit dem Elternhaus etwas nicht, dann sind da Probleme für morgen vorprogrammiert. Da müssen schon Kindergärten Ausflüge nach Kreuzberg und Neukölln machen, damit sie das Leben, die Menschen dort sehen, sich begegnen.
Wo in der Gesellschaft sehen Sie sich jetzt?
Nicht ganz oben, nicht ganz unten. Irgendwo in der Mitte.
Und wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Solange ich mir nichts zuschulden kommen lasse und auch keine gesundheitlichen Probleme bekomme, werde ich wohl bis zu meiner Rente Bus fahren. Der Vertrag des Senats mit der BVG läuft noch bis zum 2020. Ich hoffe mal, dass Klaus Wowereit noch ein bisschen Geld anspart und der Vertrag dann für uns verlängert wird. Die BVG darf doch nicht kaputtgehen, sie ist ein Traditionsunternehmen, eine Marke für Berlin und einzigartig in Europa.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene