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Kommentar FlüchtlingeWagemut und Härte

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge interessieren nur wenige Europäer. Dabei treibt erst die Grenzpolitik der EU die Menschen zu solch riskanten Fahrten.

G erade einmal 50 Meter weit ist ein mit Flüchtlingen überladenes Fischerboot nach dem Auslaufen vor der türkischen Ägäisküste gekommen. Dann rammte das Boot einen Felsen und sank. Über 60 Menschen ertranken, dabei war das rettende Ufer so nah. Hauptsächlich Frauen und Kinder, die skrupellose Mannschaft hatte sie unter Deck eingesperrt. Wenige Stunden später geschieht ein ähnliches Drama vor der italienischen Insel Lampedusa. Ein in Tunesien gestartetes Fischerboot, ebenfalls völlig überladen, kenterte zehn Meilen vor der Insel, Dutzende Menschen werden vermisst.

Die Meldungen über ertrunkene Flüchtlinge, die den Versuch, das reiche Europa zu erreichen, mit dem Leben bezahlen, werden in Deutschland mit kaum mehr als einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. In den anderen großen EU-Ländern sieht das nicht anders aus.

Warum steigen die Leute auch in solche Todeskähne? Können sie nicht selbst sehen, welches Risiko sie damit eingehen – und einfach in ihren Heimatländern bleiben? Der Wagemut der Flüchtlinge entspricht dem Grad ihrer Verzweiflung. Wer keine andere Chance für sich und seine Familie mehr sieht, wer es nicht mehr aushält, weiter in einem Flüchtlingslager dahinzuvegetieren, der macht sich auf den Weg.

taz
Jürgen Gottschlich

ist Türkei-Korrespondent der taz.

Das gilt im Moment vor allem für Flüchtlinge aus Syrien. Ein großer Teil der vor der türkischen Küste ertrunkenen Menschen floh vor dem dortigen Bürgerkrieg, die anderen aus dem Irak. Doch während deutsche Politiker wortreich das Elend der syrischen Bevölkerung beklagen und den Krieg des Regimes in Damaskus gegen die eigene Bevölkerung kritisieren, wollen sie keine praktischen Konsequenzen daraus ziehen.

Warum können Flüchtlinge aus Syrien nicht legal nach Deutschland kommen? Statt wenigstens einem Teil von ihnen eine Perspektive in Europa anzubieten, und sei es syrischen Christen, treibt man sie skrupellosen Menschenschmugglern in die Arme. Dass jetzt wieder so viele auf dem Weg in die EU sterben, ist deshalb nicht der Unvernunft der Flüchtlinge geschuldet, sondern der brutalen Härte, mit der Europa verhindern will, dass diese Leute innerhalb der EU eine Chance bekommen.

An der türkisch-griechischen Grenze wendet die EU viel Geld auf, um mit ihrer internationalen Grenzschutztruppe Frontex die leichter zu überwindende Landgrenze dicht zu machen. Weil die Flüchtlinge trotzdem nicht aufgeben – was alle Experten natürlich wissen – werden sie auf den gefährlichen Seeweg abgedrängt. Die Toten werden, wie jetzt vor der Türkei, dabei billigend in Kauf genommen.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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6 Kommentare

 / 
  • T
    tommy

    @The user:

     

    Natürlich ist das Selbstbestimmungsrecht der vorhandenen Bewohner Europas wichtiger. Und wenn jemand im Reichtum schwelgt, dann wohl doch eher die korrupten und verantwortungslosen Eliten in vielen Ländern des globalen Südens.

    Ihre Haltung, die Menschen zu Solidarität zwingen will, ist im Grunde antidemokratisch und widersprecht der menschlichen Natur. Und Ihre Hoffnung auf ein Aussterben von Europäern ist abstoßend. Machen Sie ruhig weiter so; am Ende wird dann auch noch der letzte verstehen, wie die angeblichen Menschenfreunde in Wirklichkeit ticken.

  • TU
    The User

    @tommy

    „Das ist für viele Europäer nicht hinnehmbar und wird es auch niemals sein.“

     

    Was ist wichtiger, die Befindlichkeiten dieser in Reichtum schwelgenden Europäer oder die existentielle Not der Einwohner anderer Länder? Wenn es stimmt, was du schreibst, bleibt mir nur zu hoffen, dass diese Europäer aussterben.

  • AR
    albert Reinhadt

    Den Leserbrief von tommy kann ich vorbehaltlos unterstreichen.

  • T
    Textman

    Letztens den Mauerweg entlang geradelt und mir die Gedenktafeln der Maueropfer angeschaut.

    Einmal kam mir der Gedanke das heute weitaus mehr Flüchtlinge sterben die in den "goldenen Westen" wollen als vorm Mauerfall. Hoffentlich stehen in nicht allzu ferner Zukunft auch Gedenktafeln an den Küsten des Mittelmeeres. Eine menschliche Lösung muss gefunden werden. Frontex Mitarbeiter gehören dann vor Gericht neben den verantwortlichen aus Politik, Justiz und Wirtschaft.

    Huch,ich hab wohl geträumt!!!

  • T
    tommy

    Das hört Herr Gottschlich vielleicht nicht gerne, aber ein wesentlicher Grund, warum viele Europäer die gescholtene EU-Grenzpolitik befürworten, sind die irrsinnigen Forderungen in punkto Asyl und Einwanderung wie sie von taz-Linken vertreten werden. Kaum jemand hätte wohl ein Problem damit, eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen aus einem geographisch verhältnismäßig nahen Kriegsgebiet wie Syrien aufzunehmen. Die Forderungen von taz-Linken ("Bewegungsfreiheit für alle") laufen aber im Grunde auf dauerhaft offene Grenzen für Einwanderer aus einem Großteil der Welt hinaus, ohne jede Berücksichtigung von Faktoren wie "Fluchtgrund" (oftmals ist es ja keine Flucht, sondern nur Migration) oder geographische Entfernung, kulturelle Nähe/Distanz der Herkunftsländer etc. Angesichts des irrsinnigen Bevölkerungswachstums in Ländern wie Pakistan und weiten Teilen Afrikas würde eine solche Politik eine weitgehende Afrikanisierung oder Islamisierung Europas bedeuten. Das ist für viele Europäer nicht hinnehmbar und wird es auch niemals sein.

  • BG
    Bernd Goldammer

    Hier werden Terroristen in Rebellen umgedeutet. Obwohl sie von dicht besiedelten syrischen Wohngebieten aus militärische Kampfhandlungen gegen den souveränen Syrischen Staat begehen. Das treibt die dort angestammte Bevölkerung natürlich in die Flucht. Jetzt werden diese tragischen Opfer auch noch einmal missbraucht, um den Krieg gegen Syrien loszutreten, den Russland und Syrien bisher verhindern konnten. Seit bekannt ist wie viele westliche Staaten hier illegal mitmachen ist klar, warum die TAZ die Fakten so bestialisch verfälscht. Ihr schreibt für die Kriegstreiber. Früher hat der Westen wenigstens noch Kriegserklärungen abgegeben. Jetzt schickt er bezahlte Fremdenlegionen ins Land und führt asymmetrische Kriege. Oft sogar in den Uniformen seiner Gegner. Von Syrien aus soll der Einmarsch gegen den Iran vorbereitet werden. Gegen dieses Land hat die EU bereits ein Handelskrieg entfacht und sich damit selbst ins Fleisch geschnitten. Iranisches Öl wurde vom europäischen Markt genommen. Jetzt, mitten in der Krise, steigen auch noch noch die Ölpreise. Aber davon schreibt die TAZ kein Wort.