: Ist Merkel unser Schicksal?Ja
ALTERNATIVLOS Kohls Mädchen ist zur Mutti der Nation geworden. Es scheint keine andere Option zu geben
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Urban Priol, 51, spielt manchmal Merkel in der ZDF-Sendung „Neues aus der Anstalt“
Na ja. Ja – und nein. Die seit siebeneinhalb Jahren funktionierende Erfindung von Bertelsmann und Springer, von Liz Mohn und Friede S., dem – frei nach Shakespeare – Natterngezücht, an deren Busen die „mächtigste Frau der Welt“ genährt wird, um die Interessen postdemokratischer Wirtschafts- und Finanzvertreter abzunicken, darf Schicksal spielen für uns und Europa, solange sie den wirklich Mächtigen nicht lästig wird. Bis dahin darf sie „alternativlos“ Sozialsysteme beschneiden und künftigen Generationen Lasten aufbürden, um zu verstetigen, was die Auftraggeber von ihr einfordern: Eine „marktkonforme Demokratie“. „Unsere“ Bundeskanzlerin? Man wende die Buchstaben lange genug, dann erscheint schicksalhaft: „Bankzinsenluder“. Die Ewige? Die Alternativlose? Bezeichnend ihr Satz zu den Eurobonds: „Die kommen nicht, solange ich lebe!“ Ein etwas frei interpretiertes Demokratieverständnis: Sie rechnet scheinbar gar nicht mehr damit, dass sie dereinst durch eine Wahl ihr Amt verliert? Sie wartet einfach, bis der Schöpfer sie abberuft. Das muss nicht sein. Wir dürfen Schicksal spielen für sie und uns: Am 22. September ist Bundestagswahl.
Silvana Koch-Mehrin, 42, FDP, ist Mitglied des Europäischen Parlaments
Ich bin stolz auf unsere Kanzlerin. Sie hat den Männerclub Weltpolitik zu ihrem Kränzchen gemacht. Forbes hat sie bereits sieben Mal als mächtigste Frau der Welt bezeichnet, 2012 war sie der mächtigste Mensch nach Obama. Zeitungen auf der ganzen Welt nehmen sie auf den Titel. Angela Merkel dirigiert die Linien der EU-Politik. Sie wird in China, Russland und Amerika als das Machtzentrum Europas wahrgenommen. Der Duden definiert „Schicksal“ als „höhere Macht, die in einer nicht zu beeinflussenden Weise das Leben bestimmt und lenkt“. In einer Demokratie entscheiden aber wir, wer uns lenkt. Ist Angela Merkel unser Schicksal? In diesem demokratischen Sinn wünsche ich es mir.
Thea Bauriedl, 74, ist Psychoanalytikerin und lehrt an der LMU in München
Nach den Spendenaffären von Kohl und Schäuble haben wir Deutschen unser Schicksal für lange Zeit einer „Mutti“ anvertraut, die uns vor den Kriegen der Männer schützen sollte. So, wie sich unsere „Mutti“ nun verhält, verändert sich nichts – nur ihre Handhaltung, die Raute, nachdem sie deswegen kritisiert wurde. Sie nimmt den Kindern jede Sorge vor der Zukunft und lässt „schlechte“ Nachrichten vom Regierungssprecher oder vom Bundesverfassungsgericht verkünden. Inzwischen fragen wir uns, ob es uns genügt, dass „nichts“ (Schlimmes) passiert. Die „Gefangenschaft im Gleichen“ ist so lange unser Schicksal, wie wir selbst eine grundlegende Veränderung fürchten. Es ist schwieriger, eine Mutter infrage zu stellen als einen Vater, weil dadurch die eigene Sicherheit bedroht erscheint. Aber verliert man wirklich jeden Schutz, wenn man die Macht der „stärksten Frau der Welt“ infrage stellt? Vielleicht wollen wir diesen „Rockzipfel“ wieder loslassen?
Malte Koos, 72, ist taz-Leser und hat unsere Frage per E-Mail beantwortet
Ja, weil sie, aus welchem Grund auch immer, so beliebt ist. Deshalb wird sie wohl auch wiedergewählt von all den Wählern, wenn auch nicht von mir. Ein Schicksal ist immer etwas von außen Aufgezwungenes. Es gäbe viel anzuführen für die Konzept- und damit Perspektivlosigkeit der Merkel’schen Politik. Und trotz allem ist Angela Merkel beliebt, warum nur? Das ist mein schlechtes Schicksal!
Nein
Klaus von Beyme, 78, ist Politikwissenschaftler und lehrte in Heidelberg
Der Regierungsstil der Kanzlerin ist zögerlich, aber taktisch nicht ungeschickt, da Merkel über Politiker ihrer Koalition und der Opposition kaum je ein Wort verliert. Zudem hat ihre Tendenz, die Union weiter in die Mitte zu rücken, der Opposition die Schau gestohlen, wie bei der Aussetzung der Wehrpflicht, beim Atomausstieg und neuerdings in Fragen der Homo-Ehe. Gleichzeitig macht es die Opposition schwer, Frau Merkel nicht als unausweichliches Schicksal erscheinen zu lassen. Da der Gegenkandidat Steinbrück eine Koalition von Rot-Rot-Grün ausgeschlossen hat, ist seine Möglichkeit, Kanzler zu werden, stark beeinträchtigt. Das Schicksal der Kanzlerin hängt aber zugleich am Koalitionspartner FDP, der vieles tat, um Angela Merkels Schicksalslauf der Machterhaltung zu untergraben. Immerhin: Das „Schicksal Merkel“ hält für die Kanzlerin einen weiteren Kompromiss bereit – die „große Koalition“. Man wird gelegentlich den Eindruck nicht los, dass dies ein von ihr selbst bevorzugtes Schicksal ist.
Gertrud Höhler, 72, Publizistin, hat ein Buch über Merkel geschrieben: „Die Patin“
Wir leben in der Eurodämmerung. Seit mein totgesagtes Buch „Die Patin“ in einer Woge von Plagiaten weiterlebt, wird deutlich: Die Fäuste kommen aus den Taschen. Immer mehr Länder spüren, dass die Euro-Retter Kultur-Europa verzocken. Eine Chefin, die jedes Thema in die Warteschleife schickt, wird schleichend – und von unerwarteter Seite – entmachtet. Die angepasste Hofberichterstattung meldet sich ausgeschlafen als kritische Presse zurück. Kurs und Ziel für das Narrenschiff Europa, dessen Crew die Passagiere nicht ernst nimmt, werden nicht von der Kanzlerin bestimmt, sondern von den Völkern Europas. Die im überbewerteten Euro gefangenen Völker Südeuropas werden Merkels Schicksal sein.
Katrin Göring-Eckardt, 46, ist eine der beiden SpitzenkandidatInnen der Grünen
Genauso könnten Sie fragen: Ist Fatalismus angebracht? Mir ist so eine Schicksalsergebenheit fremd. Bleiben wir bei den Tatsachen: Angela Merkel hat als Person Stärken und Schwächen. Vielen gefällt ihre unaufgeregte Art. Für mich ist sie vor allem Politikerin – für politisches Handeln und Unterlassen verantwortlich. Politik ist Gestaltungsmacht auf Zeit; und die Zeit läuft ab für die Merkel-Koalition. Das Land braucht wieder eine Regierung, die auch gestalten will, die zum Handeln in der Lage ist, die klare Leitmotive hat. Die nicht weiter an den gesellschaftlichen Realitäten vorbeiwurschtelt. Die einen neuen sozialen Ausgleich schaffen kann, ein moderneres Familienbild hat, eine offene und tolerante Gesellschaft will und die Energiewende wirklich hinbekommt. Im Herbst gibt es zu dieser Regierung mit starken Grünen eine klare Alternative.
Ulrike Guérot, 48, leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations
Merkel ist kein Schicksal, jedenfalls nicht im Sinne von Amor Fati, einem menschlichen Schicksal, dem man sich ergeben muss. Denn Politik ist Gestaltungsmacht, nicht Fatalismus, sie wird von Menschen gemacht, die man abwählen kann. Das Schicksalhafte der Situation in Europa ist jedoch, dass diejenigen Bürger von Euroland, die Merkel derzeit gerne abwählen würden, sie nicht abwählen können; während diejenigen, die sie abwählen könnten, sie – derzeitigen Umfragen zufolge – nicht abwählen wollen. Die deutsche Mitverantwortung für Europas Weh im Wahlkampf zu thematisieren, ist darum Pflicht für alle, die wollen, dass Europa wieder Deutschlands Schicksal wird, nicht Merkel!
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