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Fernsehfilm „Ein Jahr nach morgen“Wegschauen geht nicht

Aelrun Goette macht Filme, die zum Hinsehen zwingen. In „Ein Jahr nach morgen“ offenbart ein Amoklauf die Sprachlosigkeit der bürgerlichen Mitte.

Die 16-jährige Luca (Gloria Endres Oliveira) hat mit dem Jagdgewehr ihres Vaters zwei Menschen erschossen. Bild: WDR/David Baltzer

Haltung. Dieses Wort fällt oft. Und es ist so viel mehr als diese paar Buchstaben. Für Aelrun Goette ist es ein innerer Kompass, der ihr erlaubt, ihre Grenzen immer wieder neu zu definieren und in Abgründe zu blicken, ohne sich zu verlieren.

„Wie weit gehe ich und wo ist der Punkt, den ich nicht überschreite? Wie lange ist es Abenteuer und ab wann wird es Verrat?“ Diese Fragen stellt sich die Regisseurin häufig. Die Antworten kommen aus dem Bauch.

Dieser Kompass erlaubt ihr, ihre Art Filme zu schreiben und zu drehen, so unerschrocken wie kaum jemand sonst in Deutschland, die Schauspieler auf ihre Weise zu führen, ihre Arbeit bei den Sendern zu verteidigen. Er hilft ihr, hineinzugehen in menschliche Abgründe, die für sie das Spannendste überhaupt sind. Heraus kommt dann so etwas wie ihr neuer Film „Ein Jahr nach morgen“.

Fragen ohne Antworten

„Morgen“ ist der Tag des Amoklaufs der 16-jährigen Luca (Gloria Endres de Oliveira). Das Mädchen aus gutbürgerlicher Familie erschießt an ihrer Schule zwei Menschen. Ein Jahr danach beginnt nun der Prozess und die Kamera begleitet Lucas Mutter, ihren besten Freund, die Familie der Lehrerin, die getötet wurde, dabei, wie sie stumm-schreiend nach dem Warum suchen. Fragen stellt Aelrun Goettes Film viele, Antworten gibt er keine. Das ist ebenso klug wie schwer auszuhalten. Der Zuschauer beginnt, alle irgendwie zu verstehen, aber auch die Schuld jedes Einzelnen zu sehen.

„Ein Jahr nach morgen“ ist ein Film über die bürgerliche Mitte Deutschlands, in der die Menschen sich weiter und weiter voneinander entfernen. „Diese Sprachlosigkeit hat mich am meisten interessiert“, sagt die Filmemacherin. „Jugendliche leben immer stärker in ihren Parallelwelten, gerade im Internet. Es ist beunruhigend, was Kinder alles vor ihren Eltern verbergen und was die auch gar nicht sehen wollen.“ Die Idee von Facebook etwa sei es, ein Bild von sich aufzubauen, nicht, sich mitzuteilen. „Es geht um das Design eines Lebens, das man gerne führen möchte. Aber nicht um das Leben, wie man es führt. Man zeigt sich nicht“, sagt Goette. Keiner gibt Ängste zu, Schwächen, das Unperfekte. Nicht wenige zerbrechen daran.

Sie erzählt von Mädchen, die sie bei der Recherche kennengelernt hat, die sich in die Arme ritzen, um überhaupt etwas zu spüren. Von Schülern, die sich morgens schon zukiffen, um den Alltag durchzustehen. Wenn sie solche Wunden in einer Gesellschaft auftut, wenn sie merkt, da stimmt etwas nicht, aber keiner schaut so recht hin – dann hat Aelrun Goette ein Thema gefunden. Dann taucht sie komplett ein. Dann gibt es zwei Versionen ihres Lebens. Eines mit ihren beiden Töchtern, fünf und neun, zu Hause in Berlin-Prenzlauer Berg, eines am Drehort und in der Wohnung, die sie für diese Zeit anmietet.

Ein drittes und viertes Leben hätte sie auch noch gern, aber leider habe der Tag nur 24 Stunden, sagt Aelrun Goette und lacht. Sie sitzt in Prenzlauer Berg im Café „November“, der Tag passt zum Name, kalt und grau. Wen auch immer man sich vorgestellt hat, nachdem man ihre Filme gesehen hat, diese Frau war es nicht. Blondes langes Haar, zitronenfarbenes Shirt, Parka, angerissene Jeans – jung und modisch. Aelrun Goette strahlt, sie berlinert fröhlich, sie spricht sehr klar über Haltung und Verantwortung etwa, und behält dabei eine Leichtigkeit, die fern von oberflächlich ist. Sie ist offen und zugleich sehr bestimmt in dem, was sie bereit ist, preiszugeben.

Im Jahr 1966 wurde sie in Ostberlin geboren, den Name Aelrun hatte ihre Mutter mal in der Zeitung gelesen. Die starb, als Aelrun 14 war, eine Freundin der Mutter nahm sie zu sich. Bis zu ihrem ersten Dokumentarfilm 1997 war ihr Lebenslauf kunterbunt: Sie arbeitete in der Psychiatrie und als Fotomodell, war Vollzugsbeamtin in der JVA Berlin-Plötzensee sowie Kostüm- und Bühnenbildnerin. Sie studierte Philosophie und spielte in der Daily Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ mit. Schließlich studierte sie Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Babelsberg. Dann kam „Ohne Bewährung – Psychogramm einer Mörderin“, die Dokumentation über eine 15-Jährige, die mit anderen Mädchen eine 13-Jährige zu Tode quälte. Aelrun Goette hatte ihre Protagonistin im Gefängnis kennengelernt.

Prämierte Zumutungen

Es ist der erste einer Reihe von Dokumentar- wie Spielfilmen, viele davon preisgekrönt, mit denen Aelrun Goette zum Hinsehen zwingt. Zum Aushalten. Zum Nachdenken. Über die junge Frau, die in Frankfurt (Oder) ihre zwei Söhne in der Wohnung allein und somit verdursten lässt („Die Kinder sind tot“), über die Mechanismen der Bundeswehr („Feldtagebuch – Allein unter Männern“), über Sterbehilfe („Tatort“) und Jugendliche im Hartz-IV-Milieu („Keine Angst“). Von einem guten Film erwartet sie, dass er den Zuschauer „am Ende irgendwie ausspuckt und weiter beschäftigt. Das kann eine Komödie genauso wie ein Fantasyfilm sein.“

Woher kommt diese Unerschrockenheit davor, in Abgründe zu blicken? „Ich halte mich für durchaus hasenfüßig. Manchmal jedenfalls“, sagt Aelrun Goette. Aber im Umgang mit Menschen dauere es eine Weile, bis sie Angst bekomme. Dann konfrontiert sie sich damit. Denn sie habe unfassbares Glück, diese Geschichten erzählen zu können und zu dürfen. „Das bringt auch die Verantwortung mit, tiefer zu gehen.“ Ihre Jugend in der DDR, ihr Engagement in der Friedensbewegung, spielen eine Rolle bei ihren Überzeugungen. Der Druck, unter dem sie als Teenager gestanden habe, sei sehr groß gewesen. „Dadurch habe ich eine Form von Widerstand erlernt. Und ich bin zwar nicht freiwillig, aber umso nachhaltiger vom Gedanken des Kollektivs geprägt.“

Den Extremformen der Individualisierung im Westen steht sie manchmal ratlos gegenüber. Wenn man sich zusammen auf was einigen würde, wäre es doch viel besser. Aber im Westen werde oft ewig geredet und am Ende komme nichts dabei raus. Sie kann Kompromisse eingehen, aber auch sehr klar sagen: So wird es jetzt gemacht. Weil es ihre Verantwortung ist. Die Schauspieler schwärmen von der Zeit und dem Raum, den Goette ihnen lässt, von konstruktiven Diskussionen und: der klaren Haltung.

Sie schwärmt von Schauspielern, die bereit sind, „ihr Innerstes aufzuklappen“. Für deren Schutzraum ist sie verantwortlich. Das empfindet sie als eines der großen Geschenke ihres Berufs. Dafür kämpft sie und für entsprechende Produktionsbedingungen. Sie kann auch unbequem. „Die Verantwortung für die filmische Aussage trage am Ende ich. Also muss ich die anderen überzeugen. Aber dann kriege ich auch auf die Mütze, wenn es schief läuft. Es wird zu oft die Verantwortung abgeschoben, auf andere, auf die Umstände. Das ist so langweilig wie tödlich.“

Dort, wo ihr lebt

Gerade Kreative neigten manchmal zu schnell zur Selbstzensur: Das will eh keiner haben. „Ich glaube, der Zuschauer ist durchaus bereit, sich dem auszusetzen“, sagt Goette. Deshalb versucht sie, die Leute beim Sender zu überzeugen. Damit mache sie gute Erfahrungen. Für sich selbst lernt sie durch ihre Filme immer wieder, „auf meine Welt zu gucken und zu sagen: Verstehe, warum ihr uns so seht, und wie sich das anfühlt; dort, wo ihr lebt.“

Wie der Männerbund Bundeswehr funktioniert, erfährt sie so – und am eigenen Leib, wie Armut sich anfühlt, wie es riecht, wie laut es ist, wie die Aggression pocht. Denn für „Die Kinder sind tot“ lebte sie selbst in einem Plattenbau in Frankfurt (Oder). Sie braucht diese Seitenwechsel. Gerade in Prenzlauer Berg dicke man sonst schnell ein und denke, der Rest der Welt sei genauso.

Davor bewahren Aelrun Goette die Themen, die ihr zulaufen, die plötzlich da sind und sie nicht mehr loslassen. Gerade ist es ihre Zeit im Osten, die sie beschäftigt und die sie so ganz anders erlebt hat, als das mediale Bild es heute zeigt. „Wir müssen auch mal was über das Lachen erzählen, über den fröhlichen Widerstand und das Schrägsein“, sagt sie. Wann war es Abenteuer, wann Verrat – die Orientierungsfragen für den inneren Kompass, für die Haltung, gelten auch hier.

„Ein Jahr nach morgen“, 26.09.2012, 20:15 Uhr, ARD

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5 Kommentare

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  • AA
    @ Anita

    Und weil die Waffengesetze so restriktiv sind - was gut so ist, keine Frage - richtet man den Amoklauf gegen sich selbst, schweigend, fernab der Blicke anderer.

     

    Und wen interessiert das schon, nur die "Gewinner-Typen" sind doch für die Wirtschaft wirklich relevant und interessant. Sie bekommen während und nach der Schule Prämien und Preise, später Stipendien, spezielle Förderungen und Belohnungen nur für die Besten der Besten ...

     

    für die Schwachen interessiert sich niemand. Warum sollte man auch was für sie tun?

    Die sind nicht so belastbar.

    Aus denen lässt sich doch kein Profit schlagen.

    Menschen zweiter oder dritter Klasse ...

  • A
    andre

    ...weil das ja nur der aufhänger war. entscheidend waren wohl die sätze (sinngemäß):es geht immer nur um's gewinnen. um's besser sein, schneller sein, um wettbewerb.

    ich will aber nicht immer gewinnen müssen.

    so ich seh in euch nicht klassenkameraden sondern meine feinde...

  • L
    Lou

    @ Tommy

    dieser Film thematisiert was oft nicht bedacht wird, dass es an Kommunikation mangelt.

    Dass es an emotionaler Kompetenz mangelt.

    Natürlich sind Amokläufe die absolute Eskalation, jedoch das was davor steht findet tagtäglich in Schulen und vielen Leben der Kinder und Jugendlichen statt!

    Wie wäre es wenn sie die Dinge hier auf der taz.de Seite thematisieren, die sie für wichtig halten?

    So könnte beides nebeneinander stehen, ihre Sicht der Dinge und die der Autorin! Ohne dass eine Sicht be- oder entwertet wird!

    Mfg

    Lou

  • A
    Anita

    tommy: Es ist nur deshalb ein "Extremereignis", weil in Deutschland die Waffengesetze so restriktiv sind.

    Wenn ich damals in der Oberstufe Zugang zu einer Schusswaffe gehabt haette - sehr wahrscheinlich waere meine Schule dann auch beruehmt geworden.

  • T
    tommy

    Und wieder mal ein übler Fall von Gebührenverschwendung. So schlimm Amokläufe sind, sie sind doch immer noch recht seltene Extremereignisse. Wieso produzieren die öffentlich-rechtlichen nur ständig irgendwelche pseudo-nachdenklichen Mordgeschichten, während sie weite Bereiche des tatsächlichen Lebens völlig ignorieren?