Die Wahrheit: Das Glied unterm Baum
Peer Steinbrück warnt ständig davor, dass uns die Regierung hinter die Fichte führt. Aber was ist dort so schlimm? Ein grausige Entdeckung
Es gibt einen neuen gefährlichen Ort im deutschen Sprachwald: hinter der Fichte. Dorthin werden die Massen geführt, mahnt unermüdlich der Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück. Erst warnte er bei einer Bundestagsdebatte, die Sozialdemokraten würden die Koalition in der Eurokrise nicht mehr unterstützen, falls Angela Merkel die Opposition weiter „hinter die Fichte“ führen wolle. Und weil Merkel sich nicht beirren ließ, tönte Steinbrück als nächstes: „Der Schleiertanz, den die Bundesregierung bisher vorgeführt hat, täuscht die Menschen. Wir sind hinter die Fichte geführt worden.“
Unter ihm als Kanzler, so viel ist sicher, wird sich so etwas nicht wiederholen. Denn in einem Interview mit der Welt erklärte Steinbrück, die SPD wolle „niemand hinter die Fichte führen“. Dann wieder betonte er bei einem Treffen mit den Jusos, „man müsse niemanden hinter die Fichte führen“. Ganz egal, was aus Steinbrücks Kanzlerkandidatur wird, schon jetzt steht fest, er hat die Fichte zurück aufs politische Parkett geholt.
Zwar ist die Baumwarnung nicht ganz neu. So warf Jürgen Trittin im Jahr 2009 einem heute längst vergessenen Arbeitsminister namens Franz Josef Jung (CDU) vor: „Sie haben nicht nur die Unwahrheit gesagt. Sie haben uns hinter die Fichte geführt. Und das gehört sich nicht in der Demokratie.“ Und Guido Westerwelle (FDP) freute sich gar schon 1999, als in Hessen die damalige rot-grüne Landesregierung abgewählt worden war: „Die neue Mitte wollte sich in Hessen nicht zum zweiten Mal hinter die Fichte führen lassen.“
Doch während man im letzten Jahrzehnt oft Jahre auf einen neuen Fichtenvergleich warten musste, wird nun fast schon im Wochenrhythmus vor der Gefahr im dichten Nadelgehölz gewarnt. Mal rügt der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, „die Bevölkerung“ werde „hinter die Fichte geführt“, weil die Bundesregierung Wahlgeschenke ausgelegt habe. Mal erregt sich Renate Künast, der man als Obergrüne eine gewisse Waldkenntnis zusprechen möchte: „Lange Zeit hat Klaus Wowereit Berlin systematisch hinter die Fichte geführt.“
Die Frage aber bleibt: Was sollen wir alle da? Hinter der Fichte? Vom Standpunkt des Biologen gesehen, gibt es nur eine Antwort: nichts. Zwar schießt der zu den Kiefergewächsen zählende Flachwurzler bis zu 40, in seltenen Fällen gar bis zu 70 Meter in die Höhe. Doch hinter dem gewöhnlich nicht mehr als zwei Meter dicken Stamm ist einfach kaum Platz für einen längeren Aufenthalt. Nicht für „Berlin“, nicht für „die neue Mitte“, und schon gar nicht für die gesamte „Bevölkerung“.
Aufschlussreicher ist da ein Blick in die Klassiker der deutschen Sprachforschung. Schon Wilhelm Körte listete in seinem 1837 erschienen lexikalischen Werk „Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen. Nebst den Redensarten deutscher Zech-Brüder“ die Formulierung „Einen hinter die Fichten führen“ auf. Laut Körte ist sie ein Synonym für den Begriff „anführen“, aber auch für „berücken“. Sollte das Plätzchen hinterm Nadelbaum also der passende Ort für ein Schäferstündchen sein?
Das zumindest schließen auch die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm nicht aus, die nicht nur als Märchensammler berühmt wurden, sondern als Sprachforscher das nach ihrem Tod auf 33 Bände angewachsene „Deutsche Wörterbuch“ herausgaben. Allerdings lassen die Brüder Grimm im 1862 erschienenen dritten Band des Wörterbuchs keinen Zweifel, dass die verführerische Erotik hinter der Fichte stets mit einer gehörigen Prise Betrug verbunden ist.
Dafür führen sie mehrere, damals schon Jahrhunderte alte Quellen für den Gebrauch der Fichtenphrase an. So zitieren sie etwa aus den 1563 von dem Pfarrer Johannes Mathesius verfassten „15 Hochzeitpredigten – Vom Ehestand unnd Haußwesen“ den Satz: „wie der Dalila lippen, die süszer waren denn hönigsam, den thewren held Simson umb die fichte füret.“
Hierbei handelt es sich um die freie Wiedergabe der Geschichte vom teuren Helden Samson und seiner Delila, die schon im Alten Testament der Bibel – Kapitel 16 des Buches Richter – Erwähnung findet. Zwar fehlt im Original die Fichte. Doch der Tenor ist klar. Delila bezirzt den starken Samson so lange, bis er ihr das Geheimnis seiner Verletzbarkeit verrät, was das listige Weib umgehend für „tausendundhundert Silberlinge“ an die Philister verhökert. Die ergreifen ihn und stechen ihm die Augen aus.
Es handle sich um „ein altes, seinem ursprung nach dunkles sprichwort“ für „betriegen“, fassen die Grimms zusammen. Nur „was die fichte besonders dabei zu schaffen hat,“, das wussten selbst sie nicht. Das „müste uns erst eine volkssage erklären“.
Auf eine solche Volkssage wies Johann Christoph Adelung hin, der unter Germanisten als bedeutendster deutscher Sprachgelehrter vor den Grimms gilt. Sein 1811 verfasstes „Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ führt die Redensart auf. Adelung erläutert, schon an andere Stelle werde „diese figürliche R. A. auf eine seltsame Art aus der Liebesgeschichte des Atys mit der Cybele erkläret, nach welcher der erstere von dem Jupiter aus Eifersucht seiner Mannheit beraubet worden, welches denn hinter einer Fichte geschehen seyn soll“.
Um dieses Drama in seiner Gänze zu verstehen, muss man tief in die griechische Mythologie eintauchen. Da soll Obergott Zeus seinen Samen – je nach Quellenlage – auf die Erde oder auf einen Felsen, den er für die Große Göttermutter Kybele gehalten hatte, fallen gelassen haben. So oder so entstand aus dem Samen der Hermaphrodit Agdistis, dem die Götter aber aus Furcht den Penis abschnitten.
Aus dem begrabenen Geschlechtsteil wiederum erwuchs ein Mandelbaum, von dem eine Frucht zwischen die Brüste der Flussnymphe Nana fiel, die darob schwanger wurde und den späteren Schönling Atys oder Attis gebar. Als der wiederum heiraten wollte, wurde Kybele dermaßen eifersüchtig, dass sie den schönen Herrn in den Wahnsinn trieb, woraufhin er sich selbst entmannte und starb. Und zwar hinter einer Fichte!
Laut anderen Quellen soll er sich zwar in eine Pinie verwandelt haben. Aber Pinien und Fichten gehören beide zu den Kiefergewächsen. Es könnte sich um einen Übersetzungsfehler handeln. Einer dritten Variante zufolge begrub Kybele das Glied des Geliebten, aus dem dann Veilchen wuchsen, mit denen fürderhin jährlich die Fichte bekränzt wurde.
Genaueres soll der römische Dichter Ovid zu Zeiten des Kaisers Augustus im vierten Buch seines Festkalenders „Fasti“ festgehalten haben. Aber um das zu verstehen, müsste man sein Latein auffrischen. Und das würde für die Interpretation zeitgenössischer politischer Sprachhülsen dann doch zu weit führen.
Zumal die Brüder Grimm gut 50 Jahre nach Adelung ohne weitere Begründung erklärten: „der mythos von Atys und Kybele kann nicht in betracht kommen.“ Und auch Adelung selbst hatte Zweifel, allerdings mehr an der Verortung der Gefahr hinter der Fichte, da „die Nahmen Fichte, Tanne, Kiefer, Kienbaum, Fohre u. s. f. nicht nur im gemeinen Leben, sondern auch in Schriften sehr häufig mit einander verwechselt werden“.
Dennoch lässt sich zusammenfassend festhalten: Hinter den Fichten liegt zweifelsohne ein gefährlicher Ort. Wer sich dorthin führen lässt, dem drohen wenn nicht Inzest, Kastration und Tod, so doch mindestens gemeiner Betrug und Verrat. Ein Politiker, der seine Wähler vor solch Unbill im dunklen Wald bewahrt, ist jeder Rede wert. Wenigstens das wird man dereinst Peer Steinbrück hoch anrechnen müssen.
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