Call A Reporter: Die Schrottgrenze knacken
Eine Schülergruppe hat in Lichtenberg einen Kettentausch angezettelt: Wie man in ein paar Schritten vom Partei-Kugelschreiber zur Villa kommt.
Im zweiten Stock des Rathauses Lichtenberg liegt das adrenalinbefeuerte Herz der Operation, die Einsatzzentrale: Auf zusammengeschobenen Tischen verteilen sich Notitzbücher, Kuchenreste und Laptopkabel, Handys klingeln, an den Wänden kleben Zettel. Elf Schüler zwischen 16 und 20 Jahren aus ganz Berlin sind hier in eine besondere Mission vertieft: Aus Nichts wollen sie Alles machen.
Dafür haben sie sich gelbe Plastikkugelschreiber von der FDP besorgt und tauschen die Teile gegen das ein, was ihnen wertvoller erscheint. Dafür klingeln sie an Lichtenberger Wohnungstüren und ziehen durch Frohnau. „Die Leute geben uns Dinge, die mehr Wert haben als unsere Gabe“, sagt Laura Wittmann, 17. „Einen Wok zum Beispiel oder einen Kerzenständer. Und wir tauschen immer weiter.“ Durch diesen asymmetrischen Kettentausch soll sich so ein Kugelschreiber irgendwann bestenfalls in eine Villa verwandeln. Und die soll – so der große Plan – für das World Food Programme der Vereinten Nationen versteigert werden.
„Wir wollen damit die staatliche Nothilfe Deutschlands für Somalia übertreffen“, sagt Philipp Ruch, 31, der die Schülergruppe leitet. „Die Hilfe liegt gerade bei 10 Millionen Euro.“ Katastrophal wenig sei das, sagt Ruch. Und so hat er im Rahmen der Winterakademie des Theaters an der Parkaue die Aktion mit ins Leben gerufen. Ruch meint es ernst, die Schüler auch. Schließlich hat so etwas schon anderswo funktioniert. 2005 schaffte es etwa der arbeitslose Kanadier Kyle MacDonald, sich innerhalb eines Jahres von einer Büroklammer zu einem mehrstöckigen Haus hochzutauschen. Sein breit grinsendes Abbild hängt nun an der Wand in der Lichtenberger Einsatzzentrale.
Noch sind die Schüler von solch hohen Tauschwerten weit entfernt. Ihre Ausbeute umfasst bislang unter anderem einen DVD-Player, ein Seniorenhandy und eine DVD-Box mit Steven Segal. „Wir müssen jetzt die Promis mit ihren Kontakten einspannen“, sagt Schülerin Laura. Es gehe darum, die Schrottgrenze zu knacken und gezielt nach Tauschpartnern zu suchen.
Zwei ihrer Mitstreiter sind bereits am Werk: In der anderen Ecke des Raumes skypen sie gerade mit Marina Weisband, der ehemaligen Geschäftsführerin der Piraten. Sie bieten ihr ein Buddelschiff an, das in einer orangenen Flüssigkeit schwimmt. „Piratenmäßig“, finden die Schüler. Als einer der Gruppenleiter unbeholfen-charmant nachlegt und Weisband obendrauf eine persönliche Salsa-Tanzstunde offeriert, ist der Deal besiegelt. Die Ex-Oberpiratin, eine talentierte Zeichnerin, gibt den Schülern im Gegenzug eines ihrer Lieblingsbilder. Diese Information macht online sofort die Runde, Weisband teilt sie mit ihren Kontakten über Facebook und Twitter. Der Vernetzungsgedanke zeigt Erfolg: Wenige Minuten später klingelt bei den Schülern das Telefon, der erste Interessent ist in der Leitung.
Ursprünglich war das Tauschprojekt für eine Woche angelegt. „Das war natürlich eine Spinnerei“, sagt Hannah Scherfose, 16. „Aber mit etwas mehr Zeit werden wir unser Ziel erreichen.“ Der Weg dorthin lässt sich auf netzverformung.de verfolgen.
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