Suche nach Erinnerung: Puzzleteile der Geschichte
Gemeinsame Schuljahre auf der Elbinsel – eine Ausstellung über eine Sinti-Familie startet zeitgleich zum 5. Elbinsel Gipsy Festival in Hamburg-Wilhelmsburg.
HAMBURG taz | Am Anfang war ein Bild. Als Jutta Kodrzynski vom 5. Elbinsel Gipsy Festival hörte, das am Wochenende im Bürgerhaus Wilhelmsburg stattfindet, begannen ihre Erinnerungen zu arbeiten. „Das war der Ausgangspunkt, an dem mir vieles wieder einfiel“, sagt die Grünen-Politikerin. Sie öffnete ihre alten Fotoalben und stieß auf das etwa 58 Jahre alte Klassenfoto.
35 Schülerinnen und Schüler, sechs bis zwölf Jahre alt, auf der Treppe der Schule mit dem schönen Namen „Licht, Liebe, Leben“ in Hamburg-Wilhelmsburg. Sie selbst mittendrin, zweite Reihe von oben mit Pony und adrettem Kragen. Als sie sich ihre damaligen MitschülerInnen genauer anguckt, nach Namen und Erlebnissen kramt, fällt ihr ein, dass zu ihnen ja auch einige Kinder der Sinti-Familie Weiß gehörten.
„Was ich interessant finde ist, dass die gesamte Familie Weiß damals in Wilhelmsburg viel präsenter war, mehr Teil des gesellschaftlichen Lebens“, sagt die stellvertretende Vorsitzende der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte in der Rückschau. „Es war viel normaler, dass sie da sind. Irgendwie scheint das ein Stück weit verloren gegangen zu sein.“ Und sie fragt sich, wie das die anderen damals wohl erlebt haben und wie es mit ihrem Leben weiterging. „Da gibt’s doch andere Vergangenheiten“, glaubt sie.
Auf die Suche nach den ehemaligen MitschülerInnen von Kodrzynski und deren „Vergangenheiten“ hat sich die Fotografin Marily Stroux gemacht. Mehrere Angehörige der Familie Weiß öffneten für sie ihre Fotoalben und Erinnerungsschätze, die nun die Grundlage der Ausstellung „Da gibt es doch andere Vergangenheiten“ bilden. „Mich interessiert die lange Geschichte der Sinti“, sagt Stroux. „Und die Bilder und Erinnerungen, auf die ich durch dieses Projekt gestoßen bin, sind ganz wichtige Puzzlestein dieser Geschichte.“
Die Geschichte der Familie Weiß auf der Elbinsel ist Jahrhunderte alt. Zum Zeitpunkt, als das Klassenfoto entstand, lebte sie auf einem Platz bei der Alten Fähre an der Elbe. Dort hatten sich die Mitglieder der Familie angesiedelt, die die Konzentrationslager und den Krieg überlebt hatten. Zur Schule wurden die Kinder, wie sich auch Kodrzynski erinnert, immer von ihren Eltern gebracht – und zwar als geschlossene Gruppe.
„Das ist aus der Angst entstanden“, sagt Robert Mechau, der kleine Junge ganz oben rechts im Bild. „Als ich eingeschult wurde, hat mein Vater gesagt: Du gibst dich mit keinem ab. Meine Geschwister waren von den Nazis von der Schule weg verhaftet worden. Was für ein Vertrauen hat man denn da überhaupt?“ Damals wussten die Kinder der Familie nicht genau, warum ihre Eltern sie so behüteten.
„Da wächst man dann so auf, dass die Eltern sagen: ,Ihr geht nicht auf Kindergeburtstage, ihr geht nicht auf Klassenfahrten‘“, erinnert sich Inge Weiß. „Als Kind fragt man sich nicht: Warum? Man weiß nur: Das ist nichts für uns. ,Ihr geht in die Schule, aber wenn die vorbei ist, kommt ihr sofort nach Hause. Nur geschlossen, untereinander. Die anderen meinen es sowieso nicht gut.‘“
Und die tatsächlichen Erfahrungen, die die Kinder machten, bestätigten dann die Warnungen der Eltern. „Schau mal, bei uns in der Schule hieß es: ,Alles, was Weiß heißt, nach hinten‘“, berichtet Robert Weiß, der heutige Vorsitzende des Landesvereins Hamburger Sinti. „Wir sind dann in einen Raum hinter dem Klassenraum gegangen. Dort haben wir Papier bekommen und ein Paket Buntstifte und durften malen, während die anderen Unterricht hatten. Warum das so war? ’Ihr habt Läuse‘, hieß es. Kannst du dir vorstellen, wie man sich da fühlt?“
Die Angehörigen aller Generationen der Familie Weiß können viele dieser Geschichten erzählen, in denen sie bis heute aufgrund der Zugehörigkeit zur Minderheit der deutschen Sinti diskriminiert werden. „Wir sollten zur Schule, damit wir eine Chance bekommen“, sagt Mechau. „Viele von uns wollten dann eine Ausbildung machen, aber sobald wir als Sinti erkannt wurden, war die Tür zu. Jetzt versuchen wir natürlich, dass unsere Kinder endlich die Möglichkeit haben, Mensch zu sein, weder Sinto noch Nicht-Sinto, einfach Mensch. Dass sie die gleiche Chance haben wie alle anderen.“
Angstbesetzte Behütung durch die Eltern auf der einen und Stigmatisierung durch die Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite – in diesem Spannungsfeld wachsen Sinti-Kinder bis heute auf. So deutet das Ausstellungsprojekt von Stroux weit in die Gegenwart hinein. „Unsere Eltern haben uns wenig von dieser Zeit erzählt, damit sie uns nicht belasten“, sagt Robert Weiß. „Aber gerade weil sie uns so wenig erzählt haben, lastet ein enormer Druck auf uns, so ein Empfinden, dass wir gebrandmarkt sind. In der Mehrheitsgesellschaft fehlt dafür jedes Verständnis. Die meisten wollen davon nichts wissen. Nichts von dem, was geschehen ist und nicht, wie das bis heute wirkt.“
Unter dem Motto „Racke malprahl – sprich drüber“ machen die Sinti der Elbinsel der Mehrheitsgesellschaft während des Gipsy Festivals und des Ausstellungsprojekts ein Gesprächsangebot, um zumindest den Zustand des Nichtwissens zu überwinden. „Wir versuchen überall, wo es möglich ist, Brücken zu schlagen“, sagt Mechau. „Damit überhaupt erst einmal Verständnis entsteht für unterschiedliches Sehen, Empfinden und Begreifen.“
Dafür wünscht sich Stroux, dass sich auch noch weitere ehemalige Wilhelmsburger SchülerInnen, die sich auf dem Klassenfoto wiederfinden, bei ihr melden und ihre Erinnerungen teilen. Für Kodrzynsky wäre es schon ein Erfolg, „wenn durch die Ausstellung klar wird, wie lange die Familie Weiß schon Teil des städtischen Lebens in Wilhelmsburg ist“.
Wenige Jahre, nachdem das Klassenfoto entstand, entkam die Sinti Familie Weiß auf ihrem Platz an der Elbe wie durch ein Wunder der Flutkatastrophe. Weichen musste sie später trotzdem und lebt nach einer Odyssee über verschiedene Plätze nun in einer Doppelhaus-Siedlung am Georgswerder Ring. „Hütte der Geborgenheit“ steht an ihrer Tür.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!