Theater in Wien: Wie man die Steine verflüssigt
Mit „Letzte Tage. Ein Vorabend“ von Christoph Marthaler dringt die Kritik am Totalitären ins Parlamentsgebäude an der Wiener Ringstraße vor.
In den lauen Maientagen fällt es besonders auf. Wien hat sich schön gemacht für die Gäste. Historische Fassaden sind frisch gesandstrahlt, kein Kaugummipapier verunstaltet die öffentlichen Plätze, und sogar die Fiakerpferde äppeln in behördlich vorgeschriebene Auffangeinrichtungen.
Nur das Parlamentsgebäude an der Ringstraße sticht etwas ab von der tadellosen Touristenkulisse. Im Innern ist es baufällig, und schon seit Jahren wird über die Renovierung debattiert und was demokratische Praxis kosten darf.
So hat es erstaunlich weniger Eingriffe bedurft, um für Christoph Marthalers jüngste Aufführung bei den Wiener Festwochen im ehemaligen Reichsratssaal des österreichischen Parlaments den nötigen Grad an Morbidität herzustellen. Die Demokratie ist eine Baustelle (Raum: Duri Bischoff), ihre Vorgeschichte eine Katastrophe.
„Letzte Tage. Ein Vorabend“ im Jahre 1913 nähert sich im Titel der Abrechnung von Karl Kraus mit dem Untergang der Welt, wie er sie bis dahin kannte, durch den Ersten Weltkrieg: „Die Letzten Tage der Menschheit“ (1915–1922).
Was Marthalers Arbeit im Unterschied zu Kraus heute mehr weiß, lässt ihr die große Form im Halse stecken bleiben. Die Wahrheit behauptet sich im Fragment, und der aktuell nicht mehr genutzte Plenarsaal als Aufführungsort ist mehr als nur „Location“. Theater hat die einmalige Gelegenheit, seine Aufgabe des Erinnerns am Ort des Erinnerten zu betreiben.
Zuvor aber muss gereinigt werden. Ueli Jäggi lotst eine resolute Putztruppe in hellblauen Kittelschürzen unter der Leitung von Silvia Fenz und Bettina Stucky durch die Abgeordnetenbänke. Schön sauber will man’s haben in der österreichischen Geschichte, aber bloß keinen Staub aufwirbeln. In dieser kurzen Szene zeigt sich das ganze Dilemma der Denkmalpflege. Der geschichtlichen Wahrheit näher tretend, müsste sie die Wiederherstellung geschlossener Ensembles öfter verweigern, Brüche und Lücken zulassen, die die Zerstörungen des 20. Jahrhunderts geschlagen haben.
Fantasien vom Ende der europäischen Juden
Wie lässt sich zeigen, dass die gesellschaftliche Praxis so ganz und gar der in Stein gehauenen Ideologie der Monumente zuwiderlief? Zwischen den antikisierenden Statuen der kaiserlich-königlichen Abgeordnetenkammer mag klassische Bildung weit verbreitet gewesen sein, all das hat Antisemiten jeder Couleur nicht gehindert, in geschliffenen Worten ihre Fantasien vom Ende der europäischen Juden zu Protokoll zu geben.
Die infame Rede des in Teilen der Wiener Öffentlichkeit bis heute geschätzten(!) antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger aus dem Jahr 1894 mag als geschichtliche Tatsache bekannt sein. Josef Ostendorf spricht sie in hinterbänklerischer Beiläufigkeit ins Mikrofon, die das bloße Faktum zum schmerzhaften Reenactment steigert.
Die Vorgeschichte hat auch eine Nachgeschichte. Die europäische Gegenwart ist nicht ohne politische Fliehkräfte, die den Momenten vor hundert Jahren durchaus ähneln. Das rechte Denken der Gegenwart käut die Motive der Ideologien, die den Weg in die Schoah bereitet haben, unaufgearbeitet wieder.
Die weitere Textkollage der Dramaturgin Stefanie Carp baut denn auch fast durchweg auf dokumentarisches Material der Gegenwart: vom völkische Gestammel von Rednern auf Sonnenwendfeiern über infamen Antisemitismus in ungarischen Regierungskreisen bis zu dem ins Bildungsbürgertum reichenden Alltagsrassismus.
In der Überlagerung der beiden Diskursanordnungen Theater und Parlament gelingt allerdings etwas Verblüffendes: nicht nur eine inhaltliche, sondern auch so etwas wie eine ästhetische Kritik des Totalitären. So unterschiedlich und unterschiedlich gewichtig all diese Einlassungen sein mögen, jenseits des beschworenen Kollektivs gerinnen sie auf dem Parkett zum lächerlichen Solipsismus, zur paranoiden Weltverkennung.
Der Abend führt an die grenzen der Sprache
Doch zwischen diesen Vor- und Nachgeschichten steht der Absturz dessen, was man einmal für europäische Kultur hielt, in Krieg und Massenmord. Der Abend führt unweigerlich an die Grenzen der Sprache und macht die Musik von den Nazis ermordeter oder vertriebener Komponisten von Viktor Ullmann bis Fritz Kreisler in der sensiblen Handhabung des Ensembles Wienergruppe zu seinem eigentlichen Protagonisten.
Viel Beifall – nicht zuletzt auch für Stefanie Carp im letzten Jahr ihres Wiener Engagements. Sie steht in Wien für ein Festwochentheater, das sich als Bohren dicker Bretter verstand und die Frage nach der Geschichte und dem gesellschaftlich Ganzen zu stellen wusste.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!