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Gesundheitsökonom zu Arm und Reich„Hierarchien machen sozialen Stress“

Große Einkommensunterschiede sind das Grundübel der meisten Industriestaaten, sagt Richard Wilkinson. Sein Rezept: mehr Genossenschaften.

„Niemand würde ein Leben als Bettler wählen, wenn er Alternativen hätte“, sagt Richard Wilkinson. Bild: dpa
Interview von Leonie Sontheimer

taz: Herr Wilkinson, Sie schreiben in Ihrem Buch „Gleichheit ist Glück“, dass die Wohlfahrt der Industriestaaten nicht vom Bruttonationaleinkommen abhängig ist. Wovon denn sonst?

Richard Wilkinson: In den meisten Industriestaaten sind die Lebenserwartungen in den letzten einhundert Jahren enorm gestiegen. Jede Dekade werden wir zwei oder drei Jahre älter. Auf medizinischen Fortschritt allein ist das nicht zurückzuführen, denn in Ländern mit einer geringeren Schere zwischen Arm und Reich geht der Anstieg der Lebenserwartung schneller. In Gesellschaften mit einer großen Einkommensungleichheit haben wir deutlich mehr soziale Probleme. Überraschenderweise hängt dies nicht davon ab, wie sehr die Wirtschaft wächst.

Warum überrascht Sie diese Erkenntnis?

Bislang haben wir Studien über den Zusammenhang von der Lebenserwartung und dem Wohlstand immer so interpretiert, dass die Lebenserwartung vom Vermögen abhängig ist. Das stimmt aber so nicht, dieser Zusammenhang ist zu einfach. Die Lebenserwartung ist vielmehr vom sozialen Status abhängig, für den Geld wiederum in vielen Gesellschaften ein wichtiger Schlüssel ist.

In den einhundert größten Unternehmen Großbritanniens verdient die Unternehmensspitze durchschnittlich 300-mal so viel wie der niedrig bezahlte Arbeiter. Gibt es eine mächtigere Art und Weise, jemandem zu zeigen, wie wertlos er ist? Diese Hierarchien führen zu sozialem Stress und tiefergreifenden psychischen Krankheiten.

Wo steht Deutschland im Ranking der Ungleichheit?

privat
Im Interview: Richard Wilkinson

Jahrgang 1943, ist ein britischer Gesundheitsökonom. Am Freitag wird er die Eröffnungsrede des Kongresses „Umverteilen. Macht. Gerechtigkeit“ in Berlin halten.

Die Armutsschere in Deutschland ist zwar noch kleiner als beispielsweise in Großbritannien oder den USA. Sie ist aber trotzdem viel verheerender als in den skandinavischen Ländern. Deutschland lag zwar immer über dem Durchschnitt der OECD-Länder, nähert sich diesem nun aber an. Die relative Armut, die das Einkommen im Vergleich zum Durchschnitt in einem Land misst, steigt seit den achtziger Jahren.

Wie können wir dieser steigenden Ungleichheit begegnen?

Zunächst müssen wir etwas gegen die Steuerumgehung tun. Eine Angelegenheit, die mehr und mehr durch die Finanzminister der Europäischen Union entwirrt wird, allerdings könnten sie in ihrem Bemühen deutlich weiter gehen. In den sechziger und siebziger Jahren gab es sogar in den USA Höchststeuersätze von zum Teil über 90 Prozent. Heute werden Leute wild, wenn sie 50 Prozent abgeben müssen.

Noch sinnvoller als die Umverteilung durch Steuern und Boni wäre es jedoch, die Ungleichheit noch vor den Steuern zu reduzieren. Dass Topmanager inzwischen 400-mal so viel verdienen wie ihre Mitarbeiter, ist ein Mangel an Demokratie. Es braucht hier effektive Restriktionen und im gesamten Wirtschaftssektor mehr Alternativen, wie zum Beispiel Genossenschaften, in denen die Einkommensungleichheiten weitaus geringer sind.

Geben Sie Bedürftigen auf der Straße eigentlich Geld?

Das tue ich manchmal, ja. Ich glaube, niemand würde ein Leben als Bettler wählen, wenn er Alternativen hätte. Wenn man diesen Leuten zuhört, merkt man allerdings, dass sie manchmal einfach nur jemanden brauchen, mit dem sie sprechen können. Einsamkeit hat bewiesenermaßen einen ähnlich großen Einfluss auf die Gesundheit wie Rauchen.

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6 Kommentare

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  • B
    Bille

    Als ob Genossenschaften per se wider die Ungleichheit handeln!

    Ein Bekannter wohnt in einer Wohnung der Wohnungsgenossenschaft Friedrichshain eG in Berlin.

    Leute, lasst die Finger von dieser Wohnungsgenossenschaft; was da an Drangsalierung der Genoss/innen ist, passt auf keine Kuhhaut!

    Mieverträge mit Fantasiepreisen. Die Häuser werden vernachlässigt und die GenossenschaftlerInnen werden allenfalls in das so genannnte Genossenschaftsleben einbezogen, wenn sie was abnicken sollen - so auch die Genossenschaftsdelegierten. Ein unseliger Zusammenschluss von Gekauften-und denen, die sich willfährigen WohnungsgenossInnen kaufen und diese handzahm und gefügig machen und gemacht haben.

  • V
    Vic

    "Dass Topmanager inzwischen 400-mal so viel verdienen wie ihre Mitarbeiter, ist ein Mangel an Demokratie."

     

    Warum soll das ein Mangel an Demokratie sein wenn das Gehalt doch vom Aufsichtsrat und HV, festgelegt wird!?

    Jeder noch so kleine Aktionär kann (sinnvolle!) Anträge in die HV einbringen...

     

    "Diese Hierarchien führen zu sozialem Stress und tiefergreifenden psychischen Krankheiten..."

     

    Wooooow!!

    Steile These!!

    Dann müsste der Rückbau dieser Hierarchien ja zum Abbau von tiefergreifender psychischer Krankheiten führen. (Schizophrenie!?)

     

    Auch wenn keiner meine Meinung zu dem Artikel lesen möchte...

     

    Das ist der größte Schwachsinn der seit langem in der TAZ stand!

  • T
    Tom

    Geld ist eigentlich nicht das Problem oder der entscheidende Faktor, sondern die Chancenprivilegien einzelner z.B. einen Schueleraustauschplatz fuer das Ausland zu bekommen, etc.

     

    Zudem ist der Status einer Person von viel groesseren Einfluss z.B. a) die Freiberufler ( obwohl auf einer Gebuehrenordnung gestuetzt, werden sie so eingeordnet);

    b) das Beamtentum kommt historisch aus einem Feudalsystem und hielt sog. Auslaender aussen vor und versorgte sich selbst mit Einfluss.

     

    Beide Personengruppen zeichnent sich dadurch aus nicht Bestandteil der Solidarsysteme zu sein und auch sonst nicht den Bedingungen der 90 % unterworfenen zu werden. Insoweit verstaerken andere soziale Bedingungen den Stress,

     

    Als Christa Sager von den Gruenen den Doktortitel aus allen Ausweisen verbannen wollte, wurde diese Forderung medial nicht entsprechend reflektiert.

     

    In der BRD sollte man den Menschen klar sagen, dass sie ohne Doktortitel nichts zaehlen, (mehr oder weniger Sklaven sind) dann kann sich jeder darauf einstellen und die Verlogenheit hoert auf.

  • SG
    Schmidt Georg

    naja, wenn man Indien anschaut-da ist die Lebenserwartung in den letzten 100? Jahren von 35 auf 73 gestiegen. wobei man beachten muss, auch deshalb gibt es immer mehr Menschen, obwohl die Geburtenrat eher niedrig ist!

  • HL
    Heike Lindenborn

    Solange Menschen sich, sogar freiwillig, in Oben, Unten und Mitte einteilen lassen, werden auch in Genossenschaften Hierarchien entstehen.

    Auch werden die Helferindustrien, einschließlich der Medien, sich doch wohl kaum ihrer Arbeitsplätze "berauben" lassen.

  • B
    broxx

    Sozialistischer Unsinn! 50% Steuern sind eine Frechheit!