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MobilitätDie Alten kommen

Mehr und mehr Senioren zieht es nach Berlin. Sie wollen hier nicht nur Enkel betreuen, sondern die Großstadt genießen.

Schaut her, die Alten in der Stadt. Auch an den Häuserwänden: Im April hat sie der französische Künstler JR in seinem "Wrinkles"-Projekt mit Fotos von alten Menschen in Berlin tapeziert. Bild: dpa

Junge Leute aus ganz Europa treibt es nach Berlin. Sie lieben die Freiheiten, die die Großstadt bietet. Sie schätzen das Treiben auf der Straße, das Nachtleben. Sie wollen nah dran sein an der Politik, vom hier angehäuften Wissen profitieren oder die Kultur genießen, die zwischen großen Institutionen und Hinterhöfen ihre Blüten treibt. Als Rentnerparadies hat sich Berlin bislang keinen Namen gemacht. Doch das ändert sich: Auch mehr und mehr Senioren verlegen ihre Wahlheimat an die Spree.

Waren es 2006 etwa 3.700 Bundesbürger über 65 Jahren, die nach Berlin zogen, kamen im Jahr 2011 schon knapp 4.400. Endgültige Zahlen für 2012 liegen noch nicht vor. Doch den steigenden Quartalsergebnissen zufolge dürfte die 5.000er-Marke bereits geknackt sein.

Die Alten kommen also nach Berlin. Doch wer genau sind sie? Und was wollen sie hier?

Die Statistik zeigt: Abgesehen vom nahen Brandenburg stammen die meisten Zuzügler aus Westdeutschland. Anders als die jungen Leute lassen sich die Älteren auch vorrangig in den gepflegten Westbezirken nieder: Am beliebtesten ist Charlottenburg-Wilmersdorf, viele zieht es auch nach Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg. Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg und die meisten Ost-Bezirke dagegen werden eher gemieden.

Dass erwachsene Kinder, die in Berlin leben, ihre Eltern nachholen, habe es schon immer gegeben, sagt der Sozialwissenschaftler und Mobilitätsforscher Andreas Knie. „Aber dass Senioren aus eigenem Interesse herkommen, das ist ein neues Phänomen.“ Es handele sich dabei meist um Menschen, die überdurchschnittlich gut ausgebildet seien und über ein überdurchschnittlich hohes Einkommen verfügten, so Knie – also etwa Oberstudienräte und Architekten. „Die Menschen sagen: Ich fühle mich noch jung und kann in der Stadt das Kulturangebot intensiver nutzen, als wenn ich auf dem Land wohne“, sagt Knie.

Auch Peter Stawenow aus dem Vorstand des Landesbeirats für Senioren bestätigt: „Die Menschen, die jetzt alt werden, wollen nicht auf einer einsamen Insel sitzen, sondern dahin, wo das Leben pulsiert.“ Viele Zuzügler hätten auch nach wie vor Kinder oder Enkel in der Stadt. Andere hätten schon früher in Berlin gelebt und kehrten nun zu ihren Wurzeln zurück.

Stawenow glaubt, dass sich der Trend des Senioren-Zuzugs noch verstärken wird. Schließlich komme nun die Generation ins Rentenalter, die als junge Menschen die 68er-Studentenbewegung miterlebten. „Die haben andere Lebensvorstellungen und Bedürfnisse als die Generation davor“, erklärt Stawenow. Diese neuen Alten wollten Sprachen lernen, sich bilden und ihren Lebensabend den Interessen widmen, zu denen sie im Berufsleben nicht gekommen seien. Wo ginge das besser als in der Großstadt? Stawenow fasst es so zusammen: „Sie wollen teilhaben am gesellschaftlichen Leben.“

Folgt auf die Gentrifizierung der Innenstadt nun also die Gerontofizierung? Jedenfalls wird man sich an Grauhaarige gewöhnen müssen. Doch auch der Altersschnitt der eingesessenen Berliner steigt – und stellt die Stadt vor neue Herausforderungen.

Mehr zu den neuen alten Berlinern lesen Sie in der taz.am wochenende

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1 Kommentar

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  • M
    Max

    Hinweis auf einen kleinen Recherchefehler: Andreas Knie ist Mobilitätsforscher - allerdings nicht im Sinne sozialer sondern räumlicher Mobilität d.h. der Herr beschäftigt sich mit Fragen des Verkehrs. Ihn als Experten für das behandelte Thema auszuweisen ist nicht richtig!