piwik no script img

Proteste in IstanbulPfeffergas als Fehler ausgemacht

Viele Verletzte, fast 1.000 Demonstranten in Haft: Nach wütenden Protesten schlägt der türkische Ministerpräsident Erdogan nun versöhnliche Töne an.

Polizeieinsatz in Istanbul, während Erdogan im TV spricht Bild: ap

ISTANBUL dpa | Bei den Protesten gegen die islamisch-konservative Regierung sind in der Türkei Hunderte festgenommen worden. Der türkische Innenminister Muammer Güler erklärte, es seien 939 Menschen bei über 90 Demonstrationen in 48 Provinzen in Haft genommen worden, wie die Onlineausgabe der Zeitung Hürriyet in der Nacht zum Sonntag berichtete.

Ein Berater von Ministerpräsident Recep Tayyip Edogan ließ laut Hürriyet über den Kurznachrichtendienst Twitter wissen, dass der Bürgermeister von Istanbul am Sonntag mit Vertretern der Taksim-Gazi-Park-Plattform und der Architektenkammer zu Gesprächen zusammenkommen will, um eine gemeinsame Lösung für den Streit zu sondieren.

Die Protestwelle entzündete sich an der gewaltsamen Räumung eines Protestlagers, mit dem die Zerstörung des Gazi-Parks am Rande des Taksim-Platzes für ein umstrittenes Bauprojekt verhindert werden sollte.

Nach dem Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz in Istanbul habe es am Abend Zusammenstöße mit Demonstranten im Stadtteil Besiktas gegeben, berichteten Aktivisten am Samstag im Internet. Die Polizei feuere Tränengasgranaten ab. Auch türkische Medien berichteten über den Polizeieinsatz. Demonstranten hätten einen Polizeiwagen angezündet.

Verantwortliche für unverhältnismäßige Gewalt bestrafen

Nach zwei Tagen heftiger Proteste gegen seine autoritäre Politik lenkte Erdogan offensichtlich ein. Zehntausende Gegner der islamisch-konservativen Regierung verschafften sich nach heftigen Protesten am Samstag Zugang zum Taksim-Platz, während sich die Polizei zurückzog. Das Innenministerium kündigte laut türkischen Medien an, Verantwortliche für unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstranten zu bestrafen.

Zuvor hatte es neue schwere Zusammenstöße gegeben, bei denen die Polizei Wasserwerfer und Tränengas einsetzte. Erdogan räumte am Samstag Fehler ein. Zugleich sagte er, seine Regierung werde sich durch Straßenproteste nicht von ihrem Kurs abbringen lassen.

„Der Einsatz von Pfeffergas durch die Sicherheitskräfte war ein Fehler. Nun gut. Ich habe das Innenministerium angeordnet, dies zu untersuchen“, sagte Erdogan. Der Einsatz sei unangemessen hart gewesen. Die Polizei werde ihren Einsatz aber fortsetzen, sagte er zunächst. Die gewählte Regierung werde sich nicht einer Minderheit beugen. Schließlich rief Staatspräsident Abdullah Gül alle Seiten zur Ruhe und zum Dialog auf.

Auch international gab es Kritik an dem Einsatz. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, nannte das harte Vorgehen der Polizei „völlig unangemessen“. „Ich appelliere dringend an alle zuständigen Stellen in der Türkei, sich um Deeskalation zu bemühen und mit den Demonstranten das Gespräch zu suchen“, erklärte der SPD-Politiker.

„Wir glauben, dass die Stabilität, die Sicherheit und der Wohlstand der Türkei langfristig am besten durch die Beibehaltung der Grundrechte auf freie Meinungsäußerung sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gewährleistet wird“, sagte die Sprecherin des US-Außenministeriums, Jen Psaki, am Freitag (Ortszeit) in Washington. Sie verwies darauf, dass die Teilnehmer der Proteste offensichtlich nur diese Rechte wahrnehmen wollten. Ähnlich hatte sich auch die EU-Kommission in Brüssel geäußert.

„Die Regierung soll zurücktreten!“

„Die Gewalt in der Türkei muss sofort beendet werden“, forderte die SPD in Deutschland. „Die Türkei hat sich in den vergangenen Jahren erheblich modernisiert. Dieser Erfolg darf durch die aktuellen Vorkommnisse nicht infrage gestellt werden.“ Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, forderte, Grundrechte müssten in der Türkei geachtet werden.

In mehreren deutschen Städten kamen Tausende Demonstranten zu Solidaritätskundgebungen zusammen, darunter in Hamburg und Stuttgart. Auch in Berlin, Köln, Frankfurt und München waren Aktionen geplant. Die Alevitische Gemeinde in Deutschland protestierte gegen das harte Vorgehen der türkischen Polizei und forderte den Rücktritt der Regierung Erdogan. „Gesellschaftliches Engagement ist evidenter Teil der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit und darf nicht mit Gewalt bekämpft werden“, hieß es in einer Erklärung der alevitischen Dachorganisation AABF in Köln.

Angesichts des Einsatzes von Wasserwerfern und Tränengas riet die Regierung in London in einem Reisehinweis allen Briten, sich von den Protestkundgebungen in Istanbul fernzuhalten.

In Istanbul gingen Demonstranten und Beobachter davon aus, dass es angesichts der Härte des Einsatzes und der großen Zahl von Rettungswagen Hunderte Verletzte gegeben hat. Im Internet kursierten Berichte über mehrere Tote. Die Behörden bestätigten zunächst weder das eine noch das andere.

Bereits am Freitag hatten Zehntausende bis in die Nacht demonstriert. Die Behörden sprachen von 12 Verletzten und 63 Festnahmen. Die Polizei setzte so viel Tränengas ein, dass die Luft auch in den angrenzenden Stadtteilen gasgeschwängert war. Einige der vorwiegend jungen Demonstranten zündeten am Rande des Taksim-Platzes Container der an den Bauarbeiten beteiligten Firmen an. „Die Regierung soll zurücktreten!“, forderten sie.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • L
    Lügenbaronin

    Das Beste ist der Schluß: Natürlich kommt kein Journalist auf die Idee, daß Feuer gemacht wird um Tränengas zu verbrennen.

  • VP
    Vassilis Paläokostas

    Schwarz-Rote Fahnen in Izmir!

  • J
    Jaguar

    Wann fangen die deutschen Medien an, endlich einmal neutral, ohne politische Beeinflussung zu berichten?

     

    Ist dies in Deutschland nicht möglich?

     

    Man könnte Kotzen!!!!!

  • IK
    Irma Kreiten

    Fuer die im Artikel enthaltenen Informationen brauche ich keine Zeitung. Die Information ueber soziale Medien ist hier weitaus schneller und adaequater. Aufgabe der offiziellen Medien waere es, entweder zu bestaetigen oder zu belegen, dass gestern Nacht in Besiktas nicht nur Traenen- und Pfeffergas, sondern auch ein weitaus aggressiveres orangefarbenes Gas, eventuell CR-Gas, zum Einsatz kam. Hierueber verliert der Artikel aber kein Wort. Im Uebrigen finde auch ich es laecherlich, SPD-Kritik an der AKP zu hoeren, zumal sich ja zeitgleich nachlesen laesst, wie in Frankfurt mit den Occupy-Demonstranten umgegangen wird. Hier wird wohl eher von einander abgeguckt anstatt dass man die eigenen Hausaufgaben in Sachen Demokratie zu loesen versucht.

  • ST
    Stephan Truninger

    Die Berichterstattung in der TAZ ist genauso schlecht wie in den restlichen deutschsprachigen Medien. Von Rückzug der Polizei und Milde Erdogans kann keine Rede sein. Im Gegenteil, die Polizei geht gemeinsam mit jugendlichen Schlägertrupps der AKP brutal gegen Demonstranten und jeden, der sich in der Nähe befindet vor. So gestern Abend Freunden von mir in Izmir, der angeblich AKP-unfreundlichsten Stadt der Türkei, geschehen:

     

    Tom Keogh

    vor 2 Stunden

    Dear sir/madam,

     

    I am an İrish citizen living in Izmir. I have been trying to ring the Irish embassy in Ankara and the Irish Consulate in Izmir for the last hour this morning. Neither are picking up their phones. I am also copying this message to the Irish times newspaper.

     

    Last night as you know there were protests against the Turkish government in Izmir. I was out in one of the bars in the centre of İzmir in an area that was away from the protests. Eventually there was commotion on the street where the bar was. All the customers went inside but we still needed to cover their faces because of the strength of tear gas from the streets. When it got quieter we obviously declded to go home as quickly as possible. I work as a lecturer in Izmir Ekonomi Universitesi. I had been having a drink with one of the master students of the university and also a USA based artist who is doing an art project in Izmir at the moment.

     

    On our way home we needed to cross a street on which there were some police. We approached them very carefully making it clear that we were not protesters. As soon as they saw us they grabbed us very forcefully and pushed us against a wall. We explained who we were and what we were trying to do but they proceeded to treat us very badly. My student - a Turkish citizen - was pushed on the ground and beaten around his stomach and buttocks with batons. They then told him they were not interested in him and kicked him to the other side of the street where he was able to escape. However, they held my friend, a Canadian national with Chinese origins, and myself. I was initially pushed to the ground and beaten very severely around the legs for ' what I was doing'. We were then marched around the centre of Izmir for a further 2 hours as the police decided what to do with us - constantly pushing us and harassing us - along with a number of Turkish people that they had taken into custody. Eventually we got away by being friendly to one police officer who suddenly said ' just disappear up this street'. At that stage the police (including very ferocious riot police who had orıginaly detained and beaten us) were escorting probably over a hundred Turkish citizens to some unknown destination.

     

    This whole experience was very frightening, and also there were several aspects of it that were disturbing. As they walked around it was obvious that there were a number of people with the police who were carrying weapons and sticks but they were not police - merely nationalist thugs that were friendly with some police officers. Initially we thought they may have been plain clothes officers but were assured - by the testimony of other detainees and also the unrestrained behaviour of these individuals - that this was not the case.

     

    We were also aware throughout this experience that the police themselves were unaware of how they should behave but compensated - in some cases - by being as brutal as possible.

     

    I have lived in Turkey for 4 years now and have always known what a kind, gentle and hospitable people the Turkish are. To be treated myself, and to see them being treated so callously by the present government and the security forces employed by them has been very shocking.

     

    I hope that my interests as an Irish citizen will be wholeheartedly represented by you in you reaction to this government and that you will also wholeheartedly let it be known that you are appalled by how they are treating their own citizens.

     

    Thomas Keogh Lecturer Ekonomi Universitesi Balcova İzmir

    Dear sir/madam

    This is a letter I have sent to the irish embassy in Turkey this morning.

  • M
    max

    Die sind da übrigens vielfach vermummt ist Istanbul, nicht nur mit Sonnenbrillen und Regenschirmen.

  • B
    Blockupy

    Witz komm raus. Die SPD und die deutschen Medien sollten sich erst einmal mit der Gewalt gegen die deutschen Demonstranten in Frankfurt echauffieren wo mit brutaler Härte und unnötigem Einsatz gegen friedliche Demonstranten vorgegangen wird.

     

    Ihr seid lächerlich!

  • WI
    Wer im Glashaus sitzt

    Ja genau! Im eigenen Land die proteste gewaltsam auflösen (Blockupy Frankfurt, Bloykupy N.Y.C.) aber sich bei anderen Ländern stets beschweren, sie hätten keine Versammlungs- oder Meinungsfreiheit. lol!

  • S
    SNAFU

    Ich glaube kaum, dass es nunmehr noch mit "versöhnlichen Tönen" getan ist. Als gestern überall von "Rückzug der Polizei" und eben auch schon von "versöhnlichen Tönen" von Seiten Erdoğans berichtet wurde, ging es derweil munter weiter mit Protest und vor allem auch mit der Polizeigewalt.

     

    Das deutsche TV kann man dabei fast so vergessen wie das türkische - da wird nur ein Bruchteil der Situation transportiert.

     

    Nachts im ZDF "heute" erzählten sie nur was von "Krawallen" - ich könnte kotzen! Als gebe es halt nur ein Bisschen Rabatz von irgendwelchen Randalierern.

     

    Manchmal können soziale Medien ja doch bilden.

  • SG
    Stop Global Hypocrisy

    Die Polizei hatten sich zwar vom Taksimplatz zurückgezogen, aber in Besiktas gab es weiter bis in die Nacht Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant_innen und Polizei.