piwik no script img

Diakonie-Experte über Hartz-IV-Wahrnehmung„Die absonderlichsten Fantasien“

Faul und ohne Initiative: Wenig scheint so haltbar wie die Vorurteile gegenüber Hartz-IV-EmpfängerInnen. Dirk Hauer von der Diakonie Hamburg über den täglichen Existenzkampf, die Mühen der Selbst-Organisation und eine ignorante Mittelschicht.

Die Idee, dass die soziale Sicherung ein Grundrecht ist, sei hierzulande "unterentwickelt", sagt Dirk Hauer. Bild: Jobcenter Kreis Pinneberg
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

taz: Laut einer Allensbach-Studie glaubt ein Drittel der Befragten, Arbeitslose wollten nicht arbeiten. Warum hält sich dieses Bild vom faulen Arbeitslosen so hartnäckig, Herr Hauer?

Dirk Hauer: Es hält sich so hartnäckig, weil Politik, Verwaltung und Medien stetig daran stricken.

Ist es eine inhärente Notwendigkeit eines Systems, das auf größtmögliche Effizienz und Fleiß der Arbeitnehmer angelegt ist, solche Schreckensbilder zu entwerfen?

Aus meiner Sicht ist es vor allem einer tief verwurzelten Haltung geschuldet, die davon ausgeht, dass, wer staatliche soziale Leistungen beziehen will, sich die auch verdienen muss. Es gibt in Deutschland nur eine unterentwickelte Tradition des Denkens, dass die soziale Sicherung ein soziales Grundrecht ist, das jedem Menschen qua Existenz zusteht. Dazu kommt eine gewisse protestantische Arbeitsethik: der extrem hohe Stellenwert, der Arbeit an sich zugesprochen wird, ohne dass gefragt wird, was das überhaupt für eine Arbeit ist.

Es tauchen immer wieder Vorschläge auf, dass Hartz-IV-Empfänger sich ehrenamtlich engagieren sollten. Ist das reiner Populismus?

Da muss man gucken, wer sie macht. Im Wahlkampf sind sie häufig populistisch. Es gibt aber auch die irrige Vorstellung, dass wer arbeitslos ist, zu Hause herumliegt und nichts tut. Ich halte das für die Sicht einer relativ gut abgesicherten Mittelschicht auf die ihr zunehmend fremde Welt der Armut. Ich glaube, dass das eine Angst- und Abwehrdiskussion ist.

Im Interview: Dirk Hauer

54, Fachbereichsleiter Existenzsicherung und Migration beim Diakonischen Werk Hamburg. Dieses hat mehrere Studien zum Thema initiiert: - "Armut und Ausgrenzung", - "Respekt - Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg" - sowie "Zwischen Vermessen und Ermessen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hamburger Jobcenters als wohlfahrtsstaatliche Akteure"

Der Blick einer Mittelschicht, die ihr eigenes Menetekel sieht?

Es ist so ähnlich wie im 19. Jahrhundert: Da herrschte die Angst des Bürgertums vor den pauperisierten Massen. Da kommen die absonderlichsten Fantasien zutage, wie arme Menschen eigentlich leben. Was wir in unseren Beratungsstellen mitbekommen, ist etwa ganz anderes: Leben mit Hartz IV ist mit das Anstrengendste, was man sich denken kann. Ich kenne niemanden, der härter arbeitet als diese Menschen, um sich und ihre Familien einigermaßen über die Runden zu bringen.

Derzeit wird Inge Hannemann, die Mitarbeiterin des Hamburger Jobcenters, die mit ihrer Kritik an Hartz IV an die Öffentlichkeit gegangen ist, von vielen gefeiert. Ist das ein Fanal für ein weit verbreitetes Ungenügen an den Hartz-IV-Strukturen?

Wir haben eine Untersuchung zu den Mitarbeitern des Jobcenters, ihren Arbeitsbedingungen und der Wahrnehmung ihrer KundInnen in Auftrag gegeben. Was für mich daran besonders auffällig war: Es gibt kaum ein öffentliches Verwaltungshandeln, bei dem die subjektive Einstellung der Sachbearbeiter so unmittelbare Auswirkungen auf die KundInnen hat.

Wie wirkt sich das aus?

Das kann enthusiastische Empathie bedeuten, eine rigorose Parteinahme für den Klienten, aber auch die absolut gegenteilige Haltung: Der Kunde ist mein Feind. Es gibt auch nüchterne Distanz, und es gibt auch Zwischenhaltungen. Eine, die ich besonders bedenklich finde, ist: Wer mir sympathisch ist, dem helfe ich, wer mir unsympathisch ist, dem helfe ich nicht. Die Sachbearbeiter in den Jobcentern bekommen viele Fortbildungen, aber auf dieses interaktive Element, auf das Machtgefälle zwischen ihnen und den Klienten werden sie nicht vorbereitet.

Ein Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit hat angesichts der Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Empfängern gesagt, dass die meisten Menschen schlicht keinen Kontakt zu ihnen hätten. Haben Sie in Ihrem privaten Bekanntenkreis Hartz-IV-Empfänger?

Ja. Das hängt damit zusammen, dass ich lange Jahre sowohl ehrenamtlich als auch beruflich in der Sozialhilfe-Beratung gearbeitet. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es einige, die durchaus längere Hartz IV Erfahrung haben. Das „länger“ muss man dazu sagen.

Warum?

Längerfristig mit Hartz IV auskommen zu müssen und den Kontrollambitionen des Jobcenters ausgesetzt zu sein, macht Leute auf Dauer fertig. Wir beobachten, dass immer mehr Langzeitarbeitslose psychisch angeschlagen sind, auch die Engagierten. Jahr und Tag um jeden Cent kämpfen zu müssen, das laugt aus.

Wir haben uns in der Redaktion heftig um den Begriff „typische Hartz-IV-EmpfängerIn“ gestritten. Gibt es einen statistisch repräsentativen Typus, mit einem bestimmten Alter, Familien- und Bildungsstand?

Ich würde nicht von einem prototypischen Hartz-IV-Empfänger sprechen. Natürlich ist es so, dass etwa schlecht ausgebildete Menschen stärker von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Aber inzwischen kann jeder – und wird jeder – von Hartz IV betroffen. Es gibt inzwischen sehr viele ältere Menschen, die jahrelang eine solide Erwerbsbiografie gehabt haben und die, wenn ihre Firma schließt, mit einem Schlag erwerbslos werden.

Also gibt es nichts zu verallgemeinern?

Was wir wahrnehmen: Je länger Menschen arbeitslos sind und sich im Hartz-IV-Dschungel zurechtfinden müssen, desto stärker prägt das ihr Leben: der Existenzkampf, irgendwie durch den Tag zu kommen, wird oberste Priorität.

Genau das ist ja ein häufiger Vorwurf: dass die Hartz-IV-Empfänger nicht aktiver ihre Zukunft in die Hand nehmen. Erreicht das System, das eigentlich etwas anderes will, also genau das Gegenteil?

Hartz-IV-EmpfängerInnen sind ja nicht dumm, sie wissen, dass es keine Arbeit für sie gibt. Und sie haben einen realistischen Blick darauf, was schönes Gerede ist und was wirklich für sie getan wird.

Wir haben für ein Streitgespräch Vertreter von Erwerbslosen-Initiativen gesucht – und in Hamburg kaum welche gefunden. Warum gibt es vor allem Stellen wie die Diakonie, die stellvertretend für sie sprechen?

Eine Antwort ist: Kein Mensch möchte sich als Erwerbsloser verstehen und sich als solcher dann organisieren. Außerdem bedeutet Erwerbslosigkeit in aller Regel einen Individualisierungsschub. Es ist schwieriger für Erwerbslose, soziale Kontakte zu pflegen und zu halten – das ist aber eine Voraussetzung für Organisation. Und es ist unter den harten Lebensbedingungen auch schwieriger, Gruppen- und Terminregelmäßigkeiten durchzuhalten. Außerdem funktioniert so etwas nach meiner Erfahrung dauerhaft nur mit Hauptamtlichen, die irgendwie, etwa von öffentlicher Hand, finanziert werden müssen – das gibt es aber für Erwerbslose nicht. Die einzigen beständigen Strukturen, die ich in dem Bereich kenne, gibt es bei den Gewerkschaften.

In den späten 90ern hat sich die Gruppe der „Glücklichen Arbeitslosen“ organisiert, mit einem ganz neuen lässigen, bohemehaften Gestus. Warum sind die so in der Versenkung verschwunden?

Ich glaube, dass das kurzlebige, auf mediale Öffentlichkeit angelegte Ansätze waren. In Hamburg gab es in den 80er-Jahren mit den Jobber- und Erwerbsloseninitiativen Ansätze, sich in den Stadtteilen zu verankern und selbstbestimmte Kontakt- und Beratungsstellen zu sein – und das mit Politik zu verbinden. Das funktioniert aber nur, wenn es eine kritische Masse von Leuten gibt, die das rund um die Uhr, sprich hauptamtlich, machen können. Sonst ist das nur in einer bestimmten Lebensphase möglich, wenn man zum Beispiel keine Familie zu ernähren hat.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • G
    gast

    die diakonie ist doch selbst daran beteiligt, menschen in schlechtbezahlten arbeitsverhältnissen auszubeuten. so wird das nichts mit der glaubwürdigkeit, wenn auch das interview viele wesentliche punkte nennt. trotzdem danke, dafür, dieses thema endlich aufzugreifen!

  • G
    Gabi

    ach das tut mir alles so leid.Wo bleiben eigentlich die die einen ganztagsjob haben und Harz IV beziehen müssen weil ihr Lohn unter dem Sozialsatz liegt.

  • GK
    Gregor Kochhan

    Lieber Dirk Hauer,

     

    wenn wir wollen, dass das Grundrecht auf das soziokulturelle Existenzminimum auch als solches in der Öffentlichkeit wahr- und ernstgenommen wird, sollten wir aufhören, von Hartz IV-Empfängern zu reden. Für mich klingt dies eher nach Almosen"empfang" und nicht nach einem Rechtsanspruch. Von ALG II-Berechtigten zu sprechen, ist zwar sperrig, unterstreicht aber das Recht. Ansonsten Danke!

  • A
    Achim

    Stellt sich mir aber jetzt die Frage wenn der Hartz4 Alltag so anstrengend ist wie einige es dann schaffen nahezu 24 Std bei Facebook online zu sein?

    • @Achim:

      Da ich nicht bei fatzebook bin, ne dumme Frage: Kann man das auch herausfinden, wenn man dort selber nicht fast 24h online ist?

    • @Achim:

      Mir stellt sich dabei eher die Frage, woher man immer so genau weiss, das ein Arbeitsloser 24 Stunden in Facebook online ist, obwohl man selbst doch angeblich arbeitet, und daher gar keine Zeit hat, sich dort rund um die Uhr umzusehen.

      • R
        Randgruppe
        @Deep:

        Achim ist sicher einen von denen, die wenn sie gefragt werden, ob sie im Falle eines Grundeinkommens noch arbeiten wollen würden mit "JA" antworten. Gleichzeitig aber verneinen würde, dass seine Mitmenschen weiterhin arbeiten wollen würden...

    • SB
      Spieß Bürger
      @Achim:

      Und ich kenne einen, der fährt Mercedes! Und hat einen Hund!

       

       

       

      (Oh, falsche Website, ich wollte bei der Bild kommentieren.)

    • F
      fatkat
      @Achim:

      und woher willst du das denn bitte wissen? Schaust du denen über die Schulter 24 h am Tag oder bist du selbst so lange und so oft im Internet? Welch unsinnige Aussage!