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Die WahrheitBesuch aus Zukunft und Vergangenheit

Kolumne
von Joachim Schulz

Der doppelte Raimund im Café Gum zwingt zu logischen Schlussfolgerungen und noch logischeren Handlungen. Dürfen wir diesen Espresso trinken?

I ch staunte nicht schlecht, als Raimund ins Café Gum hereinkam, denn erstens stand er im selben Moment schon neben mir an der Theke, und zweitens war der eintretende Raimund locker zwanzig Jahre älter als der, der neben mir stand, weshalb es nur eine logische Schlussfolgerung gab: Dass nämlich der eintretende Raimund ein Zukunftsraimund war, der sich per Zeitmaschine in unsere Gegenwart hatte zurückschießen lassen, um zu verhindern, dass der Gegenwartsraimund und ich sogleich einen Espresso zu uns nehmen würden, weil eben dieser scheinbar unschuldige Espresso zwanzig Jahre später die Apokalypse der Zukunftswelt zur Folge hätte - oder so …

Tatsächlich aber gab es noch eine zweite logische Schlussfolgerung. "Vater!", sagte der Gegenwartsraimund. "Sohn!", sagte der Zukunftsraimund, und damit war klar, dass die beiden nicht zwei verschiedenen Abschnitten der Geschichte entstammten, sondern in einer ordinären Erzeuger-Sprössling-Beziehung zueinander standen.

"Was machst du hier?", stammelte Raimund. "Pause", sagte sein Vater. "Pause …", wiederholte Raimund tonlos: "Und was ist das da?" Er wies hinaus. "Mein Fahrrad." Das Rad war schwer mit Taschen bepackt. "Das heißt, du machst eine Tour?" - "Jawohl: Ich fahre einmal um die Welt." - "Du … - was?! Vater, du bist zweiundsiebzig!" - "Ich weiß, wie alt ich bin." - "Und was meint Mutter dazu?" - "Keine Ahnung." - "Du hast es ihr nicht gesagt?" Der alte Mann sah Raimund an. "Deine Mutter ist vor sechs Wochen mit Döring, dem Drecksack, durchgebrannt. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört." Raimund wankte. Sie hatten wohl länger nicht mehr miteinander gesprochen, und ich überlegte, wie lange es her war, dass ich zu Hause angerufen hatte.

"Gut!", sagte Raimunds Vater: "Ich will dich nicht aufhalten, du musst sicher noch zu einer Konferenz oder so." - "Konferenz?" Ich blickte Raimund fragend an. "Ja … - klar", sagte er, "eine Besprechung in Zürich, es stehen Millionen auf dem Spiel! Mein Flieger geht in einer Stunde, ich muss gleich los." - "Also", sagte sein Vater, "weshalb ich hier bin: Kannst du mir Geld borgen? Tausend wären gut. Bei deinen Bezügen sollte das doch ein Klacks sein." - "Logo …", murmelte Raimund. Er blickte erst mich an, dann Petris, den Gum-Wirt, und Petris, durch seine Stammkunden längst zu Reichtum gekommen, tauchte kurz hinter die Theke, um mit einem Bündel Scheine in der Hand wieder hochzukommen. "Danke!", sagte Raimunds Vater, nachdem sein Sohn das Bündel an ihn weitergereicht hatte, und während er zu seinem Fahrrad zurückkehrte, sagte ich zu Raimund: "Ist es wohl möglich, dass dein Vater nicht so ganz weiß, was aus dir geworden ist? Beziehungsweise nicht geworden ist?" - "Ja, so könnte man es sagen", nickte Raimund, und dann tippte Petris, unser griechischer Freund, ihn an und sagte: "So, mein Lieber, und nun zu den Bedingungen des Kredits, die selbstverständlich nicht unberücksichtigt lassen können, wie eure unerweichliche Merkel mit meinen armen Landsleuten umgesprungen ist."

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