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RäumungRasanter Rausschmiss

Mieter im Münzviertel müssen von heute auf morgen ihre Wohnungen verlassen, weil ihr Haus angeblich einzustürzen droht.

Kraftakt macht hungrig: Woltmanstraßenmieterin mit Pizza. Bild: Mauricio Bustamante

24 Stunden Zeit, um die eigene Wohnung zu räumen – den Schreck der MieterInnen der Woltmanstraße 20 im Münzviertel kann man sich vorstellen. Am Mittwochvormittag waren Vertreter der Eigentümer und Baufachleute durch das Haus gestiefelt, um die Möglichkeiten einer Sanierung zu erörtern. Weil ihnen das alte Haus nicht mehr geheuer war, informierten sie das Bezirksamt Mitte, dessen Statiker feststellte: „Die Standsicherheit ist gefährdet.“ Das Haus drohe einzustürzen, die Mieter hätten so schnell wie möglich auszuziehen.

Am Donnerstagmittag – kurz vor Ablauf der Frist – stehen übernächtigte Bewohner zwischen Möbeln, Kartons und Umzugswagen auf der Straße. Sie haben in einer Nachtschicht ihre Wohnungen geräumt und können in Umsetzwohnungen ziehen. Wie es mit dem Haus weitergehen soll, ist unklar. „Jetzt wird geguckt, was gerettet werden kann“, sagt Bezirksamtssprecher Norman Cordes. Ein Abrissantrag sei bisher nicht gestellt worden und wäre auch nicht ohne Weiteres durchzusetzen. Denn das Haus aus dem Jahr 1866 steht unter Denkmalschutz. Ein Abriss käme nur in Frage, wenn die Erhaltung des Hauses unwirtschaftlich wäre.

Dass das Haus sanierungsbedürftig ist, erschließt sich auch dem unbedarften Betrachter. In den Decken und Wänden sind Risse, die an verschiedenen Stellen punktuell vergipst wurden, um sie nicht noch weiter aufklaffen zu lassen. Im Keller hängt die Ziegeldecke durch. Der Fußboden im Erdgeschoss ist schief. „Wenn man ein Skateboard auf den Boden stellt, rollt es runter“, sagt eine Mieterin. Am beeindruckendsten ist eine kleine Terrasse im Erdgeschoss, von der sich das Haus wegneigt. In den Spalt lassen sich zwei Hände stecken.

Münzviertel

Das Münzviertel liegt südlich vom Hühnerposten, der die Bücherhallen beherbergt, in Hammerbrook.

In dem Quartier leben rund 1.150 BewohnerInnen auf 13 Hektar Fläche.

Entwicklungsgebiet: Der Senat betreibt im Münzviertel seit 2005 aktiv die Stadtteilentwicklung. Es ist das kleinste der Hamburger Entwicklungsgebiete.

Die Leitthemen der Entwicklung sind Kunst und Soziales, Wohnen und Bewohner sowie die Gestaltung des öffentlichen Raums. Dabei soll das Quartier als Wohnstandort verbessert werden, ohne dass die heutigen BewohnerInnen verdrängt werden.

Soziale Infrastruktur: Im Quartier gibt es Einrichtungen für Wohnungslose, psychisch Kranke, Behinderte und Flüchtlinge sowie eine Kontakt- und Beratungsstelle mit Drogenkonsumräumen.

Die Schäden sind nach Auskunft der Mieter schon länger offensichtlich. „Seit drei Jahren waren immer wieder Statiker und Architekten da“, sagt Mieterin Wiebke Cramer. Durch das Viertel sei auch das Gerücht gegeistert, das Haus werde abgerissen, wobei die Hausverwaltung noch vor acht Monaten versichert habe, die Mieter müssten sich keine Sorgen machen.

Für den Knall auf Fall verordneten Auszug sieht sich das Bezirksamt nicht als verantwortlich. „Es gibt keinen Bau-TÜV“, bedauert Cordes. Dass ein Gebäude marode sei, erfahre die Behörde nur, wenn Mieter oder Eigentümer das mitteilten. Für die Information der Mieter sei der Eigentümer zuständig. Die Sprecherin der Wohnungsverwaltung Wentzel Dr. beteuert: „Wir als Verwalter sind davon genauso überrascht worden wie die Mieter.“

Diese freuen sich zwar, dass ihnen die Verwaltung ruckzuck Umsetzwohnungen organisiert hat, sind zugleich aber skeptisch. „Es ist irgendwie fischig, dass auf einmal so viele Wohnungen frei sein sollen“, sagt Oliver Freitag, einer der Bewohner. Siegmund Chychla vom Mieterverein zu Hamburg findet es erstaunlich, „dass das Amt nicht in der Lage ist, die Mieter zu informieren, der Vermieter aber binnen 24 Stunden Ersatzwohnungen anbieten kann“.

Die Mieter wies Chychla darauf hin, dass ihre Mietverträge weiter bestehen. Nur ein Abriss oder Einsturz des Hauses würde sie obsolet machen. Die Bewohner hätten einen Anspruch darauf, dass das Gebäude instand gesetzt wird und sie nach Abschluss der Arbeiten zurückkehren dürfen. Ohne das Einverständnis der Mieter dürften die Wohnungen darüber hinaus nicht modernisiert werden.

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7 Kommentare

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  • *Danke Flo. Den Verdacht, dass der Immobilienfonds Core Property dahinter steckt hatte ich sofort. Die Investoren-Krake frisst sich immer mehr tiefer in unser Quartier hinein. Siehe: www.muenzviertel.de/downloads/lachender_drache_201005.pdf Seite 2. Bin gespannt wie es weiter geht. Wir bleiben dran.

    Stadtteilinitiative Münzviertel

  • A
    Annika

    Ich hab von 2006 bis 2009 in der Woltmanstraße 20 gewohnt und da war das Haus auch schon eindeutig baufällig. Alle Nachbarhäuser haben zu der Zeit schon nur noch Zeitverträge bekommen und vor jeder Verlängerung des Mietvertrages wurden die Häuser überprüft. Wir nicht.

    Trotzdem (oder wahrscheinlich eher gerade deswegen) hat Core German Residential das Haus 2008 gekauft. Die Mängel wurden regelmäßig angesprochen aber es wurde nie etwas gemacht. Schade jetzt zu hören, dass das leider bis heute so weiter gegangen ist und der Eigentümer jetzt so erstaunt festgestellt hat wie baufällig das Haus ist. Jetzt wird das schöne Haus mit sicherheit abgerissen und an die angrenzenden Hafen City angepasst.

    So ein abgekatertes Spiel!! Echt unmöglich, das so etwas möglich ist. Gibt es da keine rechtlichen Möglichkeiten?

    Das Münzviertel war immer noch ein Ort wo man für Hamburg günstig und doch zentral wohnen konnte. Schade, dass sich das jetzt wohl nach und nach ändern wird.

    Ich frag mich nur wo wohl die Umsetzwohnungen sind. Weiß das jemand? Wahrscheinlich irgendwo am Stadtrand wo die Leute jetzt 'ne knappe Stunde in die Stadt brauchen.

    Ich hab echt gerne da gewohnt...

  • Interessant ist, wer der eigentliche Eigentümer des Hauses ist. Für die Stadtteilinitiative Münzviertel Günter Westphal

    • F
      Flo
      @Günter Westphal:

      Eigentümer des Hauses ist seit 01.08.2008 die Firma Core German Residential II Hamburg Aps & Co. KG.

       

      Siehe http://www.coreproperty.dk/default.asp?id=395, letztes Objekt auf der Seite.

       

      Zitat aus deren Investitionskonzept: "Nach dem Erwerb werden die Liegenschaftspotentiale wirtschaftlich wie baulich entwickelt und durch Umbau, Renovierung, verbesserte Mietstruktur sowie reduzierte Betriebskosten optimiert." (http://www.coreproperty.dk/default.asp?id=85)

       

      Ein Traum...

       

      Jammerschade wäre es, wenn das schöne Haus nun abgerissen würde, nur weil sich die bisherigen Eigentümer über Jahre außer um die Mieteinnahmen einen Scheißdreck darum gekümmert haben!

       

      Flo

  • L
    Lena

    So was ähnliches gab es kürzlich auch in Freiburg. Dort wollte die Südwestdeutsche-Bauunion die Meiter mit akuter Einsturzgefahr raus haben.

    BAUUNION-TERROR http://www.rechtaufstadt-freiburg.de/2013/09/stadt-fuer-alle-nachrichten-0709-2013/

  • I
    Ingo

    Wiedermal ein Beispiel dafür, wie marode es um die Wohnungs-/ Immobilenpolitik in Berlin bestellt ist. Aber hey, das ist selbstverständlich nur die Sicht eines Mieters...

    Unglaublich, dass der Eigentümer in keinerlei Pflicht zu stehen scheint, was Sicherheit, bzw. eine Prüfung der Bausubstanz angeht (...wär ja auch zu nervig).

    Und die Sache mit den Umsetzwohnungen ist ja nochmal ein anderes Kapitel...

    Einfach unglaublich!

    Man kann angesichts dieser Geschichte nur ein weiteres mal frustriert feststellen, dass der Vermieter, gemäß der neoliberalen Mietpreispolitik, alles kann und darf, und nur wenig muss. Der Mieter hingegen darf zahlen oder muss gehen. Wie auch immer, eine Art "Bau-TÜV" muss es für Mietshäuser auf jeden Fall geben!!!

    • S
      Stef
      @Ingo:

      @Ingo: Ingo, das Münzviertel ist in Hamburg. Nur so zur Info. Aber die von dir beschriebene "Immobilienpoltik" ist in Berlin vermutlich kaum anders...