SELBSTBEWUSSTSEIN KAPUTT, ARBEITSFÄHIGKEIT AUCH. SCHON BLÖD, DIESE AGENDA 2010: Neoliberal sind immer bloß die anderen
JULIA SEELIGER
Das Amt nervt. Mal verpeilten sie, mir Geld zu schicken, jetzt wollen sie mir wegen durchlaufender Serverkosten – Funfact: für die Webseite eines Grünen – das Geld wegnehmen. Und Kommunikation mit denen geht immer nur über dicke weiße Papierhaufen. Leistungsabteilung, Fallmanager, Hotline. Anstatt meinen Fall an eine Person zu geben, die für Geld und Beratung zuständig ist, bin ich einem gesichtslosen System ausgeliefert.
Beratung gibt’s nicht, ist wohl zu teuer. Fordern die ganze Zeit, aber mit Fördern ist nicht viel los. Internet kennen die nicht, Service nicht und Herz auch nicht. Technokratie.
Schon blöd, was sich Rot-Grün da damals ausgedacht hat. Agenda 2010 wurde zu Hartz IV, und jetzt wollen sie sogar eine Agenda 2020. Was für ein Wort. Leiden die alle an Amnesie? Klar, ich kenne das: sich die eigene Vergangenheit schönreden. Doch wer Politik macht, sollte doch ehrlich sein mit dem, was er falsch gemacht hat.
Die Grünen stellen sich jetzt hin und sagen, neoliberal, das sind doch die anderen. Dabei hat die grüne Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt – kaum ein grünes Mitglied weiß: zu Hartz-IV-Zeiten war sie Vorsitzende der Bundestagsfraktion – damals groß getönt mit Papieren wie „Chancen für Alle“. Die Arbeitslosen sollen sich bewegen, hieß es da, als wollten die gar nicht arbeiten. Und mit der Vermittlung von Jugendlichen in Thüringen klappe es auch ganz toll: bisher sei „nicht bekannt, dass ein Angebot ausgeschlagen wurde“, heißt es in einer Pressemitteilung namens „Populismus ohne Grenzen“, die sich gegen die Kritik von Gewerkschaftern richtet.
Wundert einen nicht, dass kein Angebot ausgeschlagen wurde. Würde ich auch nicht machen, wenn da rumgefordert wird. Dass einen das alles traurig macht und das Selbstbewusstsein von so was kaputtgeht, und damit auch die Arbeitsfähigkeit, das Humankapital, konnte sich die damals noch junge Spitzenpolitikerin wohl nicht vorstellen.
Selbstkritik! Für ihre Herzlosigkeiten von damals soll Göring-Eckardt gefälligst Buße tun. Göring-Eckardt soll persönlich Verantwortung übernehmen. Zum Beispiel mal barfuß durch den Schnee vor das Karl-Liebknecht-Haus pilgern und warten, bis Bodo Ramelow und Katja Kipping ihr die Absolution erteilen.
Nicht mit blutleeren Artikeln in Technokratensprache, die sich wie Anträge zu Grünen-Parteitagen anhören, so wie der in der aktuellen Zeit. Und den hat doch wahrscheinlich eh das Büro Trittin geschrieben. Die kennen sich zwar auch nicht mit dem Arbeitslosengeld aus, aber immerhin hat Trittin mal einen Mindestlohn gefordert.
Mittwoch Margarete Stokowski Luft und Liebe Donnerstag Josef Winkler Wortklauberei Freitag Jürn Kruse Fernsehen Montag Martin Reichert Back on the Scene Dienstag Deniz Yücel Besser
Ja, die grünen Gremlins. Ich seh da jetzt nicht unbedingt schwarz, was Koalitionen betrifft, aber die sozialen Alternativen zu denken ist für die wohl wirklich schwierig. Die einen sind alternativlos neoliberal, die anderen wollen nicht persönlich drüber reden, dass sie früher so waren.
Wie sich das anfühlte, damals. Wie man über Arbeitslose denkt, als Hardcore-Neoliberale, und was daran abscheulich ist. Wäre ja interessant gewesen.
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