piwik no script img

Auf den Spuren von „Tschick“Landkarten sind für Muschis

Wolfgang Herrndorf schrieb „Tschick“. Die sonntaz-Redakteurin hat sich auf den Weg gemacht. Ein Roadtrip durch Brandenburg. Eine Hommage.

Der Lada Niva in der Nacht. Mitten in Brandenburg. Bild: David Oliveira

Der Lada kommt aus Buxtehude, und damit fängt es schon an. Ist schließlich so eine Art erfundene Stadt, „geh doch nach Buxtehude“ ein Spruch wie „geh dahin, wo der Pfeffer wächst“. Und jetzt sagt der Mann von Lada echt: Wir liefern den aus Buxtehude.

Was ich da gedacht habe, als ich Buxtehude hörte, habe ich schon mit Wolfgang Herrndorfs Worten gedacht, dabei wäre das später viel angebrachter gewesen, als David und ich im Schlamm stecken geblieben sind oder wir nachts vor dem See ohne Namen geparkt haben, mit dem ganzen Schilf davor und den rot blinkenden Windrädern dahinter. „Mich reißt’s gerade voll“, habe ich da nämlich gedacht.

Tschick und Maik, die Helden in Herrndorfs Jugendroman „Tschick“, beide in Klasse 8c, Außenseiter und kurz davor, einen Lada zu knacken, die haben auch so einen Moment. Tschick sagt: „Wir könnten meine Verwandtschaft besuchen. Ich hab einen Großvater in der Walachei.“ Und Maik sagt: „Das ist nur ein Wort, Mann. Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder Jottwehdeh. Wenn du sagst, einer wohnt in der Walachei, dann heißt das: Er wohnt in der Pampa.“

taz am Wochenende

Was bleibt, wenn ein Mensch stirbt? Viele schöne Geschichten. Die sonntaz erzählt sie - in der taz.am wochenende vom 21./22. Dezember 2013 . Wie der Autor Wolfgang Herrndorf in seinen Helden weiterlebt, Maggie Thatcher Drinks mixte und Ottmar Walter Tankwart wurde. Und: Ein Gespräch mit Inge Jens über den Neuanfang nach dem Tod von Walter Jens. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Wie Buxtehude also. Das ist ganz schön jottwehdeh. Also finden David und ich, das ist ein Zeichen. Wir kennen uns so, wie Tschick und Maik sich kennen: eigentlich kaum; wird schon gehen, ihre Route nachzufahren – David fotografiert, ich schreibe.

„Tschicko“ und „Tschicka“

Auch wenn keine Texte Herrndorf-Texte sein können außer Herrndorfs Texte, die Route im Roman zu großen Teilen fiktiv und an den meisten Stellen nicht erkenntlich ist, der literarische Lada Niva hellblau und der reale weiß. Egal: Unserer trägt schwarz-grüne Zacken auf den Seiten. Außerdem hat David Migrationshintergrund. Er stammt zwar nicht wie Tschick aus Russland. Aber aus Portugal, immerhin.

Als es vier Uhr ist, habe ich, aus Angst zu verschlafen, nicht geschlafen. Vier Uhr, hatte Tschick gesagt, das wäre die beste Zeit. David lädt noch sein Stativ ein, er nennt es „Wurst“, sich nennt er „Tschicko“ und mich „Tschicka“, und im Ernst, um diese Zeit ist man froh über solche Scherze – dann starten wir mit den 254 Seiten von Herrndorfs Roman als Wegweiser, und wir starten sofort, denn, das schrieb Herrndorf auf Seite 104: Landkarten sind für Muschis.

Wobei – sofort stimmt nicht ganz. Wir müssen von Berlin-Neukölln, wo ich wohne, nach Berlin-Marzahn-Hellersdorf, wo Maik und Tschick wohnen: Nicht so wahnsinnig weit, 15 Kilometer, um genau zu sein. Aber der Lada hat Charakter. Es dauert, bis der Zündschlüssel ins Zündschloss passt, und wenn er dann mal passt, leuchtet links davon ein Licht auf und aus derselben Ecke piepst es mit ansteigender Aggressivität, bis man in Panik gerät und glaubt, man hat den Alarm ausgelöst. Ich will hier auch nicht länger ausführen, wie oft ich unseren Leihwagen anfangs abgewürgt habe.

Auf jeden Fall würde man ja denken, Marzahn ragt schon von Weitem aus der Stadt. Aber wir verirren uns, fahren nach Westen statt Osten, und als wir endlich im Osten sind, können wir Mahlsdorf, Kaulsdorf und Biesdorf im Dunkeln schwer unterscheiden und ich überlege ernsthaft, ob wir bereits nach einer Stunde das GPS einschalten müssen, und frage doch mal vorsichtig: „Ist das Marzahn?“

„Der Musik nach zu urteilen: ja“, sagt David, und ohne Witz, wir hören Ber-liii-ner Rund-funk, eeeinundneunzig-vier, Phil Collins hat den Refrain noch nicht fertig gesungen, da taucht das Marzahn-Bezirksschild vor uns auf. Wir parken auf dem Bordstein, damit David ein Foto vom Schild machen kann, ist ja unser erster Erfolg, und kaum hantiert er mit der Kamera, wird mir schon ganz anders im Lada. Ich habe die Tür geöffnet, um meinen Kaugummi auszuspucken. Jetzt geht die Tür nicht mehr richtig zu, aber der Alarm an.

NÖÖ-ÖÖÖÖ-ÖÖÖÖÖ-ÖÖÖ.

Bei Maik und Tschick nöööt es nicht, die gleiten den Ketschendorfer Weg runter und rechts in die Rotraudstraße, dann sind sie plötzlich auf der Allee der Kosmonauten.

Bei David und mir muss man einen Alarm aussitzen. Wir sind erleichtert, als wir lernen, dass man das kann, und auch, als wir einen Jogger sehen. Er ist der erste Mensch, der uns an diesem Morgen begegnet, ich meine, der erste, der nicht in einem Auto sitzt, das wie ferngesteuert über kaum beleuchteten Asphalt brettert.

Allee der extrasolaren Planeten

Die Allee der Kosmonauten ist vierspurig, und sie ist wirklich so was wie die Allee der extrasolaren Planeten, wie Würfel auf ein Brettspiel hat man die Plattenbauten in die Landschaft geworfen und ihre Balkone auf eine Art mit Weihnachtsschmuck ausgestattet, die an die Schaufenster von Spätkäufen erinnert, nur dass die LED-Lämpchen eines „OPEN“-Schilds nirgendwo flirren.

Wir halten auf einem Schuttplatz, neben dem eine Indoor-Beachvolleyballhalle und ein Dixieklo stehen, weil David findet, dass das Marzahn gut „represented“. David spricht mehr Englisch als Deutsch, darum sprechen wir eine merkwürdige Mischung, aber Maik und Tschick hätte das sicher genauso wenig interessiert wie uns, merkwürdig mein Arsch hätten die gesagt.

Vor allem: Dass wir hier so sitzen, die Türen offen, David raucht eine, der Berliner Rundfunk-Moderator sagt, „es ist 6:54 Uhr, die Sonne geht auf“, und dann spielt er Bruce Springsteens „I’m on Fire“ und die Sonne geht wirklich auf und spiegelt sich in den Fenstern der Platten – das, Tschick, Maik, lieber Wolfgang Herrndorf, zieht einem komplett den Stecker.

In meiner Vorstellung fuhren wir durch menschenleere Gegenden, praktisch Wüste, und die Wirklichkeit ist jetzt vielleicht nicht Wüste, aber auch nicht Oase. „Dass er uns hierher gebracht hat allein“, denke ich, und: „Herrndorf: einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.“

Wegen seiner Sätze, klar, sind wir jetzt hier. Aber auch wegen der ganzen Zweifel, die er so hatte, weil, die ganzen Zweifel, die haben wir ja alle. „Roadmovie, kein Ziel, keine Aufgabe“, schrieb Herrndorf am 23.5.2010 um 15:00 Uhr in seinem Blog, der vor ein paar Wochen als Buch erschienen ist; der Blog, mit dem er anfing, kurz nachdem ihm ein Gehirntumor diagnostiziert wurde. Oder am 29.5.2010 um 22:32 Uhr: „Mein Roman langweilt mich.“ Oder am 19.7.2010 um 11:33 Uhr: „Mitten in der Nacht springe ich aus dem Bett und reiße Torberg, Hesse, Strunk, Bräuer, Kracht, Knowles aus dem Regal, um zu vergleichen: Warum funktioniert das bei denen, warum nicht bei mir?“

David würgt den Lada ab, und ich bin ein wenig dankbar dafür. Hat was von Ehrenrettung. „Are you in the first Gang?“

Weil uns die Weidengasse – hier, ungefähr, wächst Maik als Sohn reicher Eltern auf, hier malt er Tatjana, kann sich ja jeder vorstellen, wie sie aussieht, ein Bild von Beyoncé zum Geburtstag – weil uns die Gasse also nicht mal auf Google Maps untergekommen ist und Tschick bloß eine vage Heimat hat, gleiten wir auch den Ketschendorfer Weg runter und rechts in die Rotraudstraße, eine Menge Linden und Zäune entlang. Eine Frau, die ihren Hund ausführt, nickt uns zu, als wir mit zehn Stundenkilometern wie in Zeitlupe auf sie zurollen. Sie nickt so wissend, dass wir ganz verunsichert sind, als wüsste sie Dinge über uns, die wir nicht mal wissen. Gibt es was, das wir über uns wissen sollten?

Adventskränze an Haustüren

Wir zählen die Adventskränze an den Haustüren, die Herrndorf nicht zählen konnte, weil er „die passende Wohngegend“ für seine Geschichte fand, als hier Vögel flogen und es warm wurde. „Mittelprächtige Villen neben Plattenbauten“, geht sein Blogeintrag vom 29.4.2010 um 19:00 Uhr, „Google Earth zeigt Swimmingpools.“ Swimmingpools! In your face, L.A.

Woran es in Marzahn gerade noch fehlt, neben den passenden Straßennamen, ist eine Kfz-Werkstatt. Meine Tür schließt immer noch nicht, das wird echt zum Problem. Weil es zieht und wir noch in die Walachei müssen. Die liegt in Rumänien.

Ein Marzahner sagt, links ab und dann die erste rechts, dann würden wir die Werkstatt schon sehen, aber dann ist er sich nicht mehr so sicher, vielleicht ist es doch die zweite oder die dritte rechts. David tippt auf die vierte, aber die ist es auch nicht.

Etwa nach der neunten ist da ein Hornbach und davor ein Hornbach-Mitarbeiter, der uns nach Springpfuhl schickt. Im Autohaus bei Springpfuhl lässt Marc, der Mechaniker, seinen Kaffee stehen und kniet sich vor die Beifahrertür, weil die Falle kaputt ist, wie er sagt, „die muss höher“. Mit der Zange zieht er sie fester und nach oben.

„Gibt’s die Autos noch?“, fragt er, da kommt Bartsch angelatscht, so stellt er sich vor, und man kann Bartsch ansehen, dass er Schöneres heute nicht mehr sieht. „Die Dinger gibt’s doch nicht mehr“, sagt er, eine Stimme wie Zweiter Weltkrieg, und stellt sich in den Garageneingang, hinten links hängen Kalender mit nackten Frauen. „Hat der ZV? Servo?“

Mechaniker-Marc hat Tunnel in den Ohren und Bartsch die Kippe im Mund, als er in den Lada steigt. „KennchnurfnDDR-Zeitn“, sagt er, die Kippe bleibt drin, „Servohatta.“ Ich glaube, Bartsch ist verliebt. „Hattaecht!“

Er will noch sehen, wie der Lada unter dem Blech aussieht, befühlt Ersatzrad und Innenleben der Frontklappe, „dochmasehnwasdieneugmachtham“, anschließend macht er uns einen Freundschaftspreis und Marc zeigt uns noch, wie man die Heckklappe öffnet, damit David die Wurst, also sein Stativ, vom Rücksitz in den Kofferraum packen kann. „Habt ihr ’n Bordbuch? Ist beim Lada ja bestimmt nicht so dick.“ Sobald die Wurst drin ist, ist der Kofferraum voll, und wir ziehen ab.

Ist auch nötig. Einerseits weil wir seit sechs Stunden unterwegs sind und noch immer nicht aus Berlin raus, und andererseits weil – der Tau auf den Wiesen, das Gartenmöbel-Outlet-Plakat – mit der Auffahrt auf die A10 endlich die Zeit für diese Moll-Scheiße beginnt.

Diese Moll-Scheiße ist, was Maik und Tschick auf der Kassette zu hören bekommen, die sie unter einer Fußmatte entdecken: eigentlich keine Musik, eher so Klaviergeklimper, das zu immer neuen Höhenflügen ansetzt. Das wollen wir logisch nicht verpassen, also habe ich David und mir Richard Clayderman auf iTunes runtergeladen. Und jetzt halten wir uns abwechselnd den Lautsprecher ans Ohr, aus dem die Höhenflüge tönen, bei Tempo 110 versteht man im Lada nämlich kein Wort, und kacheln mit „Ballade pour Adeline“ über die Autobahn.

Lang bleiben Tschick und Maik dort nicht, also fahren wir auch wieder ab. Wo wir abfahren, können wir uns aussuchen – machen die Jungs genauso. Geht es nach Burig Richtung Süden oder nach Freienbrink? Freienbrink: Verstehen wir nicht. Bei uns geht es nach Grünheide oder nach Spreenhagen. Egal, wir müssen eh eine Münze werfen, so will es das Herrndorf-Skript. Kopf für rechts, Zahl für links, und wenn sie auf dem Rand liegen bleibt, geradeaus.

Das 2-Euro-Stück hat uns nach rechts geführt, aber kaum sind wir abgebogen, legt es David drauf an und eine Vollbremsung hin, und damit meine ich eine Vollbremsung vor dem Herrn. Er findet, wir müssen wie die im Buch was Illegales tun, und biegt noch mal rechts ab, ganz ohne Münze. Als nächstes fotografiert er das Waldweg-Schild mit dem durchgestrichenen Auto und schiebt eine Schranke beiseite, muss wohl eine Beiseiteschiebeschranke sein, und dann treffen wir auf Matsch. Links taucht eine versteckte Industrieanlage auf, die irgendwie gar nicht mehr aufhört und bis zu der Betonwand reicht, auf die wir stoßen, und bis zu der Betonwand sind wir uns auch sicher, dass das jetzt der ganz große Coup wird, weil wir es hier mit einem Crystal Meth Labor zu tun haben.

Die Motorhaube wärmt von unten

Aber hinter der Betonwand kommen wir „am Schlösschen“ wieder raus und merken, dass wir es hier mit einer Kleingartenkolonie zu tun haben.

Tschick lag auf der Luftmatratze am Waldrand und sonnte sich. Würden wir jetzt auch, hätten wir draußen Plusgrade und im Lada eine Luftmatratze verstaut. So kommt’s, dass wir uns ins Feld stellen und auf die Motorhaube setzen, die ganz gut wärmt, von unten; von innen wärmt Bier, das wir dazu trinken. Ist noch vor zwölf, ja ja – was soll ich sagen: Tschick ist minderjährig und erscheint regelmäßig mit einer Fahne zum Unterricht.

David springt von der Haube und stellt das Radio lauter. „Ain’t no sunshine“, singt er, inbrünstig, er fühlt es, den Schmerz und alles, „when sheee’s gone“, er reckt die Hand in die Luft, das Bier darin, „Tatjana!“, ruft er. „I painted Beyoncé for you!“

Und echt, vielleicht ist es schon das, was an Wolfgang Herrndorf am meisten rührt. Dass er im Wissen, bald zu sterben, Figuren wie Tatjana und Maik fertig entworfen hat – die erste Hälfte „Tschick“ lag sechs Jahre bei ihm rum. Und dass ihre Liebe, wenn überhaupt, mit der Zeichnung so einer Poptante beginnt. Und dass, wenn ihre Liebe trotz so einer Poptantenzeichnung nicht beginnt, die Tatjanas am Schluss ganz klar unwichtiger sind, als du denkst, und nur zählt, dass du dir dein Leben gut machst – und zwar mit Typen wie Tschick, weil die dein Leben noch besser machen. Weil die alles ändern, alles wird dann größer, die Farben satter, und die Geräusche Dolby Surround.

Darum fahren David und ich auch wer weiß wie lange im Kreis, so lange auf jeden Fall, bis wir verhungern und in Fürstenwalde im Café Herrlicher landen, was nicht ganz in Ordnung ist; Maik und Tschick sind nämlich nicht hier gelandet. Nur wissen wir dank ihrer halt auch, dass es ernsthaft wenig bringt, Tiefkühlpizzen mit dem Feuerzeug zu grillen, und ihren Lada am Ende sechs Frisbeescheiben wie Ufos den brennenden Todesstern verlassen müssen. Die Tiefkühlpizzen auf unseren Tellern allerdings sind, glaub ich, in der Mikrowelle gegrillt und viel eckiger als rund.

Beim Rausgehen rammt David mit seinem Rucksack den Plastikchristbaum und der fällt um wie in „Tschick“ einmal eine Kuh. Einfach umgekippt. David sagt „ups“ und will die Tanne wieder hinstellen, dabei bricht er die Baumspitze ab. David flucht, „I destroyed Christmas“, David lacht, „war ein Unfall.“

Sprinten wie Forrest Gump

Zum Auto müssen wir rennen, an Mäc Geiz und einem Nagelstudio vorbei: Aus fünfhundert Meter Entfernung können wir schon sehen, dass uns die Polizistin, die um den Lada schleicht, einen Strafzettel ausstellen will. Heißt: Wir sprinten wie Forrest Gump und winken und rufen, echt bescheuert müssen wir aussehen, wedeln da mit den Armen und tragen beide blauen Jacken, und sie, alter Finne, wartet, macht null, sagt: „Bitte das nächste Mal einen Parkschein auslegen. Schönen Tag noch“ – und geht.

Einfach so geht die! Wie wir der Polizistin aus Fürstenwalde hinterhergucken, ist uns gleich klar, dass sie zu jenem heiligen Prozent gehört – das zu einem von Maiks Erkenntnissen gehört: Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen, damit man nicht völlig davon überrascht wird.

Mark-graf-pieske. Ist wie ein Ohrwurm mittlerweile, der Ortsname. Die Methode, nur noch Orte mit einer Primzahl als Kilometerstand anzufahren, Bad Freienwalde 51 km zum Beispiel, hat sich bei David und mir als sinnlos erwiesen, weil wir schlecht in Mathe sind. Nur Dörfer mit unseren Anfangsbuchstaben zu nehmen, war auch schwierig, weil uns gar keine mit D und A aufgefallen sind. Und immer rechts-links-rechts-links hat folgende vier Punkte ergeben:

1. Ziegengruppe

2. Waldabschnitt

2.1. Waldabschnitt, sandig

2.2. Waldabschnitt, tief

3. Markgrafpieske 2,5 km

4. Markgrafpieske 5 km

Also stirb, Markgrafpieske.

Es wird eh düster, der Wind saust um den Lada und macht den Lada fragil, wir haben den Eindruck, dass das bereits der weltallerlängste Tag ist, wir, Proleten auf Raketen, nie den nächsten Punkt erreichen, den Herrndorf nennt, und holen Clayderman und das GPS raus. Auf dem Weg nach Zwietow legen wir uns zwei Stunden vor der Serways-Raststätte schlafen, danach stellen wir uns in ihr an die Heizung, essen eine Packung Haribo und spielen Flipper, nur schenkt uns der Flipper statt 2,40 Euro bloß 240 Punkte. Am Automaten rütteln hilft auch nicht. Blöd.

Wir rauschen roten Tupfen hinterher, über uns sind sie auch, Rücklichter, Flugzeuglichter, und fühlen uns, als wären wir in New York gelandet, als wir endlich ankommen: aufgeregt und heiß auf die Stadt. Was natürlich Quatsch ist, weil Zwietow fast genau dort aufhört, wo es anfängt. Hat also mehr Sinn, direkt im Wald zu halten und die Schlafsäcke auszupacken. Wir steigen aus und sehen uns in der neuen Nachbarschaft um. Wir sehen nix. Was, wenn uns ein verdammtes Wildschwein rammt? Wir steigen wieder ein.

Ist wie nach Hause kommen, innen im Lada: Mit Mützen und Handschuhen und Decken und dem, was Tschick und Maik eben essen, Knäckebrot und Marmelade und, superbonfortionös, Snickers zum Nachtisch. Wir fragen uns, wie Mars eigentlich überleben kann, so als abgespeckte Snickers-Version, rollen die Sitze zurück, reden über die Arbeit und Weihnachten und YouTube-Videos und Fußball und den Weltkrieg, und schauen dabei durch die Windschutzscheibe ins Nichts.

Es ist egal, was noch passiert

Und wie ich dann aufwache, weil einer von uns mal wieder mit dem Schlafsack raschelt und gegen eine Plastikflasche drückt, wie Blätter und Tropfen und Äste auf unser Dach fallen und es bei den Ästen so klingt, als würde der Lada jeden Moment zu einem Feuerball verschmelzen und in der Luft explodieren, fällt mir ein, was Herrndorf in seinem Blog geschrieben hat, am 11.5.2010 um 17:32 Uhr, drei Jahre bevor er sich erschoss: „Der ungeheure Trost, der darin besteht, über das Weltall zu schreiben. Warum ist der Anblick des Sternenhimmels so beruhigend?“

Und dann fällt mir erst ein, was Herrndorf in „Tschick“ geschrieben hat, am selben Tag, wohl nur ein paar Stunden früher – und plötzlich ist egal, was noch alles passiert ist und was ich alles noch schreiben wollte (am liebsten würde ich das ja gar nicht erzählen. Ich erzähl’s aber trotzdem), wie David Hühner jagen war oder wie wir recherchiert haben, dass es, anders als im Buch, in Zwietow keinen Bäcker gibt, dafür aber einen Spanferkel-Verkauf, wie wir Bratwurst und Schnitzel im Gasthaus Gaumer gefrühstückt haben, als die Putzfrau noch den Boden wischte, der Inhaber, Herr Gaumer, uns von der Hochzeit am Abend zuvor erzählte – und wir fragten:

„Wo geht’s denn hier zur Aussichtsplattform?“

„Schwierig zu erreichen, der Weg ist ziemlich holprig.“

„Wir haben einen Geländewagen.“

– Und wie wir, wie Maik, zur Aussichtsplattform gestapft sind und dort einen Turm hoch, dem zwei Stufen fehlten und der vielleicht deshalb „auf Grund dringender Reparaturarbeiten“ eigentlich geschlossen war, wie wir einmal in Seitenlage standen, gefühlte sechzig Grad, wie uns, Klassiker, einmal beinahe das Benzin ausging, wie David sagte, er würde sich das Leben vermissenswert machen, wenn er nicht mehr lang zu leben hätte, er würde noch mal mit dem Fallschirm springen, und ich sagte, ich würde nach Alaska; wie wir dann doch Panik schoben, als wir vor dem See, dessen Namen keiner kannte, wirklich keiner, im Schlamm stecken blieben und die Räder durchdrehten, wir schließlich, die Halme prasselten gegen die Türen, im Sperrgebiet vor lauter Gebüsch fast verloren gingen, nachts vor dem See, mit dem ganzen Schilf davor und den rot blinkenden Windrädern dahinter. Ehrlich, das ist alles ziemlich egal.

Weil Maik und Tschick, die schaffen es auch nie in die Walachei. Was keinen stört, sie sind Profis am Werk und haben die vielleicht beste Einsicht schon lange bevor sie südlich oder südöstlich von Berlin vollrohr auf einen Schweinelaster prallen.

Und wir haben die eben jetzt, südlich oder südöstlich von Berlin, wo draußen Finsternis und der Geruch von Holz ist, in Zwietow, im Lada, im Kopf Wolfgang Herrndorfs Gedanken zum Himmel; die er, Seite 120, 121, 122, in Maiks Worte zur Galaxie legt: „Mal im Ernst, glaubst du das?“ Wir lagen auf dem Rücken, Tschick stützte sich auf den Ellenbogen. „Glaubst du, da ist noch irgendwas?“ Ich schaute in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen Unendlichkeit, und ich war irgendwie erschrocken. Ich war gerührt und erschrocken gleichzeitig, und dann drehte ich mich zu Tschick, und er guckte mich an und guckte mir in die Augen und sagte, dass das alles ein Wahnsinn wäre, und das stimmte auch.

Es war wirklich ein Wahnsinn.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • naja, etwas sentimental. Im Ggs. zum Herrendorftext leidet der Text doch etwas unter der latenten heterosexuellen Spannung ("wann machen sies?"), während es im Roman ja ehrlicherweise um Freundschaft und Jugend (und Verzweiflung) geht. Aber es lohnt sich eben immer, auch im Mercedes übrigens, die Provinz zu entdecken.

  • T
    Tim

    super