EU-Freizügigkeitsabkommen: Kein Grund zur Angst vor den Armen
Die CSU warnte jüngst vor Armutsmigration aus Osteuropa. Doch Bulgaren und Rumänen, die in Deutschland ohne Job sind, erhalten gar keine Leistungen.
BERLIN taz | Die Wartezimmer beim Verein Südost-Europa Kultur in Berlin-Kreuzberg sind voll. Unter den Ratsuchenden: Simona, 39. Die rothaarige Rumänin kellnert derzeit als Selbstständige in der Spielbank Berlin. Sie hofft, nach Neujahr irgendwo fest angestellt zu werden – denn dann wäre vieles einfacher, mit dem Jobcenter, mit der Krankenversicherung in Deutschland.
Ab 1. Januar dürfen Zuwanderer aus den seit 2007 zur EU gehörenden Balkanstaaten Bulgarien und Rumänien in der Bundesrepublik jede Arbeit, vom Minijob bis zur sozialversicherungspflichtigen Stelle, annehmen – so wie Bürger Polens oder Tschechiens schon seit Mai 2011.
Bisher konnten Bulgaren und Rumänen zwar wie alle EU-Bürger in alle Länder der Union einreisen – aber in Deutschland nur als Selbstständige arbeiten. Lediglich Akademiker, gelernte Krankenschwestern, Saisonarbeitskräfte oder bestimmte Spezialisten durften schon bisher angestellt werden, wenn kein Bewerber aus Deutschland oder den alten westeuropäischen EU-Staaten zur Verfügung stand.
Ansonsten ändere sich am rechtlichen Status der Migranten – etwa was den Bezug von Hartz IV betrifft – „mit dem 1. Januar nichts“, betont eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Bulgaren und Rumänen, die nach Deutschland kommen und hier arbeitslos bleiben, erhalten in der Regel keine Leistungen. Einzelne anders lautende Urteile einiger Landessozialgerichte behandelten besondere Fälle und seien noch nicht rechtskräftig.
EU-Migranten in der Bundesrepublik bekommen im Januar wie bisher lediglich Kindergeld in Höhe von 184 Euro pro Sprössling, wenn sie in Deutschland gemeldet sind. Bis heute liegt der Anteil der Kindergeldberechtigten aus der hiesigen bulgarischen und rumänischen Community niedriger als im bundesdeutschen Durchschnitt. Das belegen Zahlen aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.
„Aufstocken“ mit Hartz IV ist schon jetzt möglich
Bürger Bulgariens und Rumäniens könnten aber zu Hartz-IV-Beziehern werden, wenn sie einen gering bezahlten Job haben. Bisher schon bekommen EU-Migranten, die nachweislich als Selbstständige in Deutschland arbeiten und zu geringe Einnahmen haben, ergänzende Leistungen nach Hartz IV. Doch die Zahl der Berechtigen ist klein: Nur rund 2.000 selbstständige Gewerbetreibende von insgesamt 170.000 Erwerbstätigen aus Bulgarien und Rumänien beziehen zusätzliche Hartz-IV-Leistungen.
Zuwanderer aus den südosteuropäischen EU-Ländern, die beim Jobcenter als „selbstständige Putzfrau“ oder „selbstständiger Abbruchunternehmer“ einen Antrag auf ergänzende Leistungen stellen, müssen einen bürokratischen Hürdenlauf absolvieren: In Berlin verlangen die Arbeitsagenturen Gewerbeschein, Steuernummer, den Nachweis einer Krankenversicherung, Rechnungen und Überweisungen von mindestens drei Auftraggebern, Quittungen über Betriebsausgaben und entsprechende Kontoauszüge.
„Das ist sehr viel Bürokratie und nur schwer zu bewältigen“, sagt Cristina Nastase, Beraterin bei Südost-Europa-Kultur. Mit einem Minijob oder einem gering bezahlten Teilzeitjob hätten die Migranten zwar weniger Aufwand, um beim Jobcenter aufstockende Leistungen zu erhalten. Doch selbst Minijobs sind nicht so einfach zu finden. „Die fehlenden Sprachkenntnisse sind das größte Hindernis“, so Nastase.
Eine individuelle Frage
Forscher sehen das Problem daher nicht so sehr im Ausnutzen der Sozialsysteme. „Es geht nicht um die Einwanderung in die Sozialsysteme, sondern um bestimmte Gruppen in bestimmten Städten, die weder in Beschäftigung sind noch Sozialleistungen beziehen“, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte des IAB in Nürnberg zur sogenannten Armutsmigration.
Im Bundesdurchschnitt seien von den Rumänen und Bulgaren etwa 60 bis 65 Prozent erwerbstätig, so Brücker weiter. In Städten wie Duisburg aber liege die Quote der Erwerbstätigen unter diesen Bevölkerungsgruppen bei nur 15 bis 20 Prozent. Das bedeutet, dass etwa 75 Prozent der Zuwanderer dort wirklich ausgegrenzt sind: Sie beziehen weder eine Sozialleistung, noch sind sie in Arbeit. Wie sich das nach dem 1. Januar entwickelt, ist unklar. Im Jobcenter Duisburg habe man das Personal um 30 Mitarbeiter aufgestockt, so eine Sprecherin der Behörde.
Was die Arbeitnehmerfreizügigkeit betrifft, gibt es Erfahrungswerte aus der Vergangenheit. Seitdem die Freizügigkeit für Polen, Tschechien und die anderen neuen EU-Staaten 2011 in Kraft trat, ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten aus diesen Ländern um mehr als 100 Prozent gestiegen. Das zeigen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Die Zahl der Hartz-IV-Bezieher aus diesen acht Ländern – darunter auch Aufstocker – nahm im selben Zeitraum dagegen nur um etwa 30 Prozent zu. Das entspricht 1,5 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger in der Bundesrepublik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Habecks Bewerbungsvideo
Kanzler-Era
Auflösung der Ampel-Regierung
Drängel-Merz
+++ Nach dem Ende der Ampel +++
Habeck hat Bock
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Die Grünen nach dem Ampel-Aus
Grün und gerecht?