piwik no script img

Der lange Marsch

KUNST Elmgreen & Dragset in München

Der Marsch auf die Feldherrnhalle in München hat nie aufgehört. Die 1844 fertiggestellte Denkmalhalle diente am 9. November 1923 Hitler, Ludendorff und weiteren Putschisten als Anlaufpunkt.

Seit Jahrzehnten kommen die Touristen und erfreuen sich an der nach 1945 erfolgten Rekonstruktion der Platzanlage nördlich der Altstadt. Leuchtenberg-Palais, Bazargebäude, Residenz, Theatinerkirche: Fröhlich glühen die Smartphones auf dem zwischen 1816 und 1829 angelegten Odeonsplatz.

Plötzlich tritt ein alter Mann aus einer nahe gelegenen Passage. Er hat auf den Glockenschlag der Theatinerkirche gewartet. Es ist 12 Uhr mittags. Mit hängenden Schultern geht er auf die Glasvitrine zu, die auf einem würfelförmigen Sockel mitten auf dem Platz steht. Unbeirrt von den Blicken der Passanten, zückt er einen Schlüssel und sperrt langsam die beiden Schlösser des Glaskastens auf. Zwei Polizisten beobachten ihn ebenso gespannt wie einheimische Senioren, russische Extremshopper und junge, lachende Japaner.

Jeden Tag holt der Mann mit dem weißen Bart, der Schiebermütze, der immergrauen Hose und dem immerhellbraunen Blouson eine spiegelnde Flüstertüte aus dem Kasten. Langsam wendet er sich nach Norden, Richtung Siegestor („Dem Krieg geweiht, im Krieg zerstört, zum Frieden mahnend“), und hebt den Schallverstärker Richtung Himmel.

Eine mehrfach gebrochene, viele Geschichten erzählende Stimme ruft: „Es ist nie zu spät, sich zu entschuldigen.“ Danach legt er das altmodisch anmutende Megafon aus massivem Metall wieder zurück, sperrt ab und verlässt den Odeonsplatz Richtung Hofgarten. Der Mann ist eine Art Minijobber, beauftragt vom Künstlerduo Elmgreen & Dragset im Rahmen der von der Stadt München geförderten Aktion „A Space Called Public / Hoffentlich öffentlich“.

Bis Ende September wird der Best-Ager täglich seiner geringfügigen Beschäftigung nachgehen. Noch erntet er kaum Reaktionen. Eine Frau in rosa Leggings und weißer Pelzjacke filmt einfach drauflos. Lässt Hitler grüßen, der ja genau hier 1914 dem Jahrhundertkriegsbeginn zujubelte? Ein Straßensänger in Tracht, nur wenige Meter entfernt, lässt sich nicht aus dem Takt bringen. Im Stil des wahren Heino singt er den Platz nieder: „Mit Seil und Haken, den Tod im Nacken, / hängen wir an der steilen Wand. / Herzen erglühen, Edelweiß blühen, / vorbei geht’s mit sicherer Hand.“ Doch, manchmal ist es einfach zu spät. Um Entschuldigung bitten muss man gerade dann. K. ERIK FRANZEN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen