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Die WahrheitWenn der A-Train kommt

Kolumne
von Frank Schäfer

Ist die Frau am Steuer auch noch die eigene Mutter, kann es in der Kindheit zu belastenden Erlebnissen kommen.

M eine Mutter hatte erst spät ihren Führerschein gemacht und fuhr ungern. „Heute fährst du den Wagen aus der Garage“, sagte mein Vater, „damit du das auch mal lernst.“ An seinem Hals traten die Sehnen hervor. Dick wie Bremsseile.

Von jetzt auf nun mutierte sie zum Nervenwrack. Mutter bekam das Brötchen nicht mehr hinunter, kam kaum heil in ihre Schuhe. Ihr Gang zum Auto erinnerte an den der Marie Antoinette zum Schafott. „So, Rückwärtsgang rein, und Kupplung gaaanz langsam kommen lassen.“ Abgewürgt. „Ich habe doch gesagt: mit Gefüüühl!“

Meine Mutter sah in den Rückspiegel, nickte noch einmal traurig – und trat dann mit voller Wucht aufs Gaspedal, sodass der Wagen zunächst einen erschreckten Satz machte und dann aus der Garage schoss wie eine Gewehrkugel aus dem Lauf. Sie hatte leicht den Lenker verrissen, das kostete uns den Scheinwerfer vorn links. Aber keiner achtete darauf.

Wir befanden uns auf gefährlichem Kollisionskurs mit der Hauswand. Mein Vater griff beherzt ein und riss die Handbremse hoch bis zum Anschlag. Die Eltern tauschten wortlos die Plätze, nachdem mein Vater den Schaden inspiziert hatte. Und ich glaubte, ein zufriedenes Lächeln auf dem schönen Gesicht meiner Mutter zu sehen.

So ganz war ihre Karriere als Fahrerin damit aber doch nicht vorbei. Meine Eltern hatten ein Spargelfeld gepachtet, das ein paar Kilometer entfernt lag. Während der Ernte musste Mutter jede zweite Woche morgens selbst fahren, weil mein Vater zu dieser Zeit schon bei der Frühschicht war. Sie überfuhr die Nachbarskatze – die wir dann im Wald entsorgten, damit keiner etwas merkte –, rammte Bordsteine, und dann wäre es beinahe um uns geschehen gewesen.

Wir waren heil hingekommen, hatten Spargel gestochen und machten uns nun auf den Heimweg. Gleich nach der Feldausfahrt lag ein Bahnübergang. Mutter fuhr an, der Wagen soff ab und wir rollten langsam auf die Schienen, kamen dort zum Stehen. Ich schaute wild nach rechts und links. Ich wusste, der A-Train würde kommen und mich holen. Ich würde mein kurzes, äußerst intensives Leben in dreckiger Spargelstecherkluft aushauchen.

So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Sie war fahl wie der Tod und nestelte am Schlüssel, versuchte, ihn zu drehen: erst gegen den Uhrzeigersinn, es ging nicht, dann richtig herum, aber in ihrer Angst hatte sie vergessen, die Kupplung zu treten. Der Wagen bockte, soff sofort wieder ab, bockte erneut. Ich begann zu wimmern. „Sei still“, schrie sie mich an. „Du bist an allem schuld! Weil du uns die Haare vom Kopf frisst, mussten wir den Spargel anlegen!“

Dann fiel ihr alles wieder ein, was sie in der Fahrschule gelernt hatte. Sie trat die Kupplung, drehte den Schlüssel, gab Vollgas und machte die Scheibenwischer an. Der Wagen heulte klagend auf. Mit durchdrehenden Reifen schossen wir aus der Gefahrenzone. Ich schaute in den Seitenspiegel, behielt den Bahnübergang im Auge. Nicht lange. Nur bis die Ampel auf Rot schaltete und die Schranken sich senkten.

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