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Gamification-Konferenz in KrakauSpielend durch die Wirklichkeit

Auf einer internationalen Konferenz im polnischen Krakau diskutieren Fachleute die zunehmende Vermischung von Alltag, Kunst und spielerischen Konzepten.

In „The Phone Story“ spielt man die Herstellung von iPhones nach. Apple-Geräte blockieren das Spiel. Bild: Molleindustria

Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, schrieb Friedrich Schiller 1795 zur „Ästhetischen Erziehung des Menschen“. Spielen, also freiwillige Beschäftigung nur aus Freude an der Sache, soll Zeugnis unserer Menschlichkeit sein?

Gut möglich. Denn fasst man den Spielebegriff etwas weiter als „Mensch ärgere dich nicht“ oder „World of Warcraft“ und besinnt sich auf Vergnügen und Zweckfreiheit als oberste Parameter, erscheint eigentlich jedes Handlungsfeld der Kultur – Kunst, Musik, Literatur, Sport, Theater – als Spiel.

Insofern passt es ganz gut, dass die Spielekonferenz Playstorming an einem Ort wie Krakau stattfindet. Die 750.000-Einwohner-Stadt gilt nicht nur als touristische Hochburg Polens, sondern mit ihren renommierten Museen und Theatern sowie der historischen Bedeutung zugleich auch als Kulturhauptstadt des Landes. Da Krakau im Gegensatz zu Warschau im Zweiten Weltkrieg nicht bombardiert wurde, weist die Stadt noch sehr viele Bauwerke aus den Epochen von Gotik, Renaissance, Barock und Jugendstil auf.

Auch das deutsche Goethe-Institut befindet sich in einem solchen 500 Jahre alten Schmuckstück, direkt im Zentrum der von einem Grüngürtel umrahmten Altstadt. Fast anachronistisch wirkt es da, wenn im ehemaligen Palast einer Adelsfamilie, unter verschnörkeltem Stuck und Kronleuchtern, im Rahmen von Playstorming über digitale Spielkultur und spielerische Lebensmodelle der Zukunft diskutiert wird.

Rund hundert junge Krakauer sind da, um den Vorträgen zu lauschen oder eines der analogen Spiele auszuprobieren, die für die Ausstellung im rechteckigen Innenhof des Goethe-Instituts exklusiv angefertigt wurden. Im Publikum sind viele Hobby-Gamer und Nerds, aber auch Kunststudenten und zukünftige Game-Designer, die sich mit den geladenen internationalen Szenegrößen austauschen wollen.

Spiele für Erwachsene

Inzwischen gilt Deutschland als größter europäischer Absatzmarkt für Video- und Computerspiele, rund 2 Milliarden Euro betrug der Branchenumsatz im vergangenen Jahr und erreichte damit einen neuen Höhepunkt. Dazu zählen der Absatz von Konsolenspielen, Smartphone-Apps aber auch sogenannten virtuellen Gütern, die man innerhalb eines eigentlich kostenlosen Onlinespiels erwerben kann, um besser und schneller in die folgenden Levels zu kommen.

Schon lange sind es nicht mehr nur Jugendliche, die ihre Zeit dem digitalen Spielen opfern. Etliche Spiele werden inzwischen wegen ihrer inhaltlichen Komplexität oder der Altersfreigabe explizit für Erwachsene produziert. Durch diesen Aufschwung der Spielkultur gewinnen auch andere, nichtvirtuelle Spiele seit einigen Jahren an Popularität. So tourt etwa das Berliner Kollektiv Invisible Playground seit 2009 durch die Metropolen der Welt, um ortsspezifische Spiele im öffentlichen Raum zu organisieren.

Dass die Allgegenwärtigkeit des Spiels keineswegs nur ein Phänomen unserer Zeit ist, zeigt der in Lüneburg lehrende Game-Theoretiker Mathias Fuchs anhand einer 3-D-Animation. Im 18. Jahrhundert wurde von den Brüdern Roentgen ein portabler Spieltisch erfunden, der überraschend viele Charakteristika des heutigen Laptop aufweist: Das Gerät ließ sich einklappen, überallhin mitnehmen und diente vorrangig der sozialen Interaktion, also dem Spiel. Doch wurde es häufig auch als Versteck für geheime Briefe und Pornografie genutzt, da es in eingeklapptem Zustand wie ein gewöhnlicher Tisch aussah.

Überhaupt habe man sich im damaligen Europa, das sich von der aristokratischen zur bürgerlichen Gesellschaft entwickelte, in einer Art „Spiele-Jahrhundert“ befunden, meint Fuchs. Für Goethe etwa waren Kartenspiel und Schach die erste Form der Interaktion, wenn er in eine neue Stadt zog. Mozarts teuerster Besitz indessen war neben dem Klavier sein Billardtisch.

Was aber macht das Spielen am Billardtisch oder am Computer so faszinierend für den Menschen? Tomasz Majkowski vom Krakauer Institut für Spieltechnologie erkennt im Spiel das wahre Demokratieprinzip: „Spiele bilden eine umgekehrte Welt, denn sie erhalten eine Utopie der absoluten Gleichheit. Die Machtverhältnisse, die das wirkliche Leben beherrschen, verlieren ihre Bedeutung. Im Spiel gewinnt man, weil man gut geübt oder einfach Glück hat, und nicht weil man bestimmte soziale Voraussetzungen mitbringt.“

Freier durchs Spielen

Es mag schon sein, dass der Mensch sich im Spiel freier fühlt, doch gleichzeitig ist er nur dann erfolgreich, wenn er sich vollends den Regeln unterwirft. Und da diese in der virtuellen Welt sehr viel transparenter sind als in der Wirklichkeit, stellt sich die Frage, welche Folgen die Rationalität des Gamers hat, wenn er den Computer herunterfährt.

„Gamification“, ein derzeit sehr gern und häufig genutztes Modewort, bezeichnet ein Lebenskonzept, das spieltypische Elemente in den Alltag integriert. Das kürzlich auf dem US-amerikanischen Markt erschienene Produkt „Google Glass“, ein auf einem Brillenrahmen montierter Minicomputer mit integrierter Digitalkamera, ist ein Beispiel par excellence, wie die Wirklichkeit sich langsam zum Spiel erweitert.

Es funktioniert als Interface, also als vermittelnde Schnittstelle zwischen dem Menschen und seiner Umgebung. Informationen zum Gesehenen werden aus dem Internet bezogen und auf dem Sichtfeld eingeblendet. Während des Gesprächs mit der neuen Kollegin etwa könnte man nebenbei ungestört Daten über sie abrufen.

Auch in der Arbeitswelt haben IT-Firmen wie IBM Gamification-Modelle bereits erfolgreich eingeführt. Angestellte werden durch spielerische Anreize zu mehr Leistung motiviert, und zwar ohne mehr Geld dafür zu bekommen. Das Unternehmen dagegen kassiert – indem es vom Vergnügen und Wetteifer seiner Mitarbeiter profitiert.

Soziale Probleme als Spielgegenstand

Der Game-Designer Paolo Pedercini sieht das kritisch, für ihn hat das nicht mehr viel mit Spielen zu tun: „Gamification ist das, was die Unternehmen wollen, doch haben sie sehr wenig Ahnung davon, was das Spielen eigentlich ausmacht. Es geht eben nicht nur ums Punktesammeln.“

Der gebürtige Mailänder ist ein heimlicher Star der Szene, weil er sich mit seinem Game-Design-Projekt Molleindustria der Idee des Alltagseskapismus entschieden widersetzt und gerade aktuelle Probleme der Gesellschaft zum Spielgegenstand macht. Pedercini selbst bezeichnet seine meist zweidimensionalen und ziemlich retro angehauchten Werke als „Agitprop-Spiele“.

Das Onlinespiel „Everyday the same dream“ etwa handelt vom monotonen Schwarzweiß-Alltag eines Büroangestellten, dessen Leben man mit kleinen Veränderungen manipulieren und schließlich durch einen Suizid zu Ende bringen muss.

Einen großen Coup landete Pedercini mit „The Phone Story“, das exklusiv für iPhones produziert wurde. Darin spielt man den Herstellungsprozess des Apple-Handys nach, angefangen bei der Coltan-Abbaustätte im Kongo, wo kleine Kinder von militärischen Gruppen versklavt werden, über unterbezahlte Arbeiter in China bis hin zu giftigen Elektromüllhalden in Pakistan und schließlich den Konsumenten in der Schlange vor dem heiligen Apple-Store, der aus Copywrite-Gründen im Spiel ein Birnen-Logo trägt. Trotzdem wurde das Spiel nur fünf Stunden nach Veröffentlichung von Apple blockiert – wegen „fragwürdigen Inhalts“.

Pedercini, der am Kunstinstitut von Pittsburgh lehrt, ist nicht der einzige Gast, der mit seinem Spielkonzept einen künstlerischen Anspruch verfolgt. Auf die kontrovers diskutierte Frage, ob Computerspiele Kunst sein können, antwortet die spanische Technikphilosophin Euridice Cabanes, es sei umgekehrt, die Kunst verwandle sich allmählich in ein Computerspiel, seien doch viele moderne Werke inzwischen auf Interaktion im Sinne eines Spiels angelegt.

Cabanes selbst gehört zu den Entwicklern der Geräuschinstallation „Audiogames“, die bereits auf diversen Festivals und in Museen ausgestellt wurde. In einem leeren Raum umherwandelnd können Spieler nur über den Sound aus ihren Kopfhörern eine Abenteuerwelt imaginieren, in der sie Gefahren erkennen und den Weg zum Ziel finden müssen. Das smarte Experiment, das im Gegensatz zu den meisten Spielen nicht auf dem Sehvermögen basiert, inkludiert auch blinde Nutzer – so realitätsfern, wie es für manche anmutet, ist es also nicht.

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