Die Wahrheit: Lesen ist doof
Nur Mut zur Lücke: Unbelesenheit ist keine Schande. Denn ohne Lektüre lebt es sich, seien wir ganz ehrlich, wesentlich stressfreier.
Tanzmusik, Tischfeuerwerk, eine weitere Runde berauschender Getränke – es gibt vielerlei Möglichkeiten, eine lahmende Abendgesellschaft zu beflügeln oder endgültig auseinanderzupeitschen. In David Lodges Campus-Roman „Changing Places“ bringt der englische Gastprofessor Philip Swallow seinen Kollegen aus einer literaturwissenschaftlichen Fakultät in Kalifornien ein selbstausgedachtes Spiel namens „Humiliation“ bei.
Ziel des Spiels ist, sich durch ein öffentliches Bekenntnis zur eigenen Unbelesenheit kräftig zu blamieren. Dazu nennt jeder Spieler pro Runde einen Buchklassiker, dessen Lektüre er im Laufe seines Lebens verabsäumt hat, von dem er aber getrost annehmen kann, dass die anderen ihn gelesen haben, und streicht für jeden Mitspieler, auf den dies zutrifft, einen Punkt ein.
Am Schluss gewinnt bei Lodge also der Mutige, der sich intellektuell möglichst umfassend entblößt und die beschämendsten Bildungslücken offenbart. Als ein unangenehmer Ehrgeizling nach längerem Zögern damit auftrumpft, Shakespeares „Hamlet“ nicht gelesen zu haben, gerät der feiernde Kollegenkreis in Aufruhr, ja helle Verzückung. Dem armen Irren wird zwar feixend der Sieg zugestanden, doch schon am nächsten Tag spürt er, wie in den Fluren und Hörsälen über ihn getuschelt wird. Kurz darauf verweigert man ihm die ersehnte Festanstellung, und seine Karriere ist vorerst beendet.
Nun zu mir: „Hamlet“ musste ich in der Schule lesen, aber ansonsten würde ich dieses Spiel jederzeit mühelos gewinnen. Nennen Sie mir einen Klassiker der Literatur, am besten der deutschsprachigen, und ich habe ihn nicht gelesen.
Bücher hassen
Nicht „Der Vorleser“. Nicht „Die unendliche Geschichte“. Noch nicht einmal „Die Vermessung der Welt“. Andererseits ist es natürlich fraglich, ob man mit Bekenntnissen dieser Art – „Changing Places“ erschien 1975 – überhaupt noch Furore machen kann. Man kann ja heute praktisch alles äußern. Dass man Tiere sexuell anziehend findet und Hitler vielleicht nicht als Politiker, aber als Mensch faszinierend. Dass man das Schicksal der Dritten Welt alles in allem für verdient hält und Krawatten, die weniger als 100 Euro kosten, für stillos und inakzeptabel.
Man darf inzwischen gewiss auch in aller Öffentlichkeit sagen, dass man nicht gern liest. Dass man Bücher regelrecht hasst. Da flippen sie dann vermutlich nur noch auf der Buchmessenparty von Rowohlt ein wenig drüber aus oder im Feuilleton der FAZ. Alle anderen kennen die Wahrheit und sehen ihr offen ins Gesicht: Die meisten Bücher sind bereits Mist, bevor man nur einen einzigen Blick hineingeworfen hat, und der Rest erledigt sich auf den ersten zwanzig Seiten nahezu immer von selbst.
Bis man mal eine taugliche Lektüre gefunden hat, können Jahre vergehen. Außerdem bedeutet die Entscheidung für ein bestimmtes Buch immer auch die Zurückweisung von Millionen anderer. Nicht jeder wird mit diesem Druck fertig, manche drohen daran zu zerbrechen, und in der Zwischenzeit ist man ohne Lesen eigentlich auch ganz gut zurechtgekommen.
Die einzigen Menschen, die das nicht einsehen wollen und einigermaßen verstockt darauf beharren, dass man gern zu lesen hat, sind die Autoren. Wie unwillig, ja verschnupft sie reagieren, wenn man ihnen sagt, dass man nicht so gern liest! Sondern lieber eine gute Fernsehsendung anschaut, zum Beispiel eine dieser tollen amerikanischen Serien wie „The Sopranos“ oder „Breaking Bad“. Wenn ich mich nicht täusche, werden diese narrativen Meisterwerke in Kürze die Rolle des „Hamlet“ einnehmen, falls man eventuell mal wieder „Humiliation“ spielen will – dann selbstverständlich mit TV-Serien – statt mit Buchklassikern.
Einem besonders vernagelten Autor und Leseapologeten habe ich in einer Theaterbar in Münster gesagt, dass ich in dieser Lage speziell seine Bücher ganz besonders ungern lese. Da war er gleich total beleidigt, statt sich meine Argumente einmal sachlich zu Gemüte zu führen. Ich dachte damals nur: Das machen Bücher also aus Menschen – völlig selbstbezogene, selbstverliebte Zombies!
Und darum lese ich nicht gern. Und Sie bald hoffentlich auch nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
BSW in Thüringen
Position zu Krieg und Frieden schärfen