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Präsidentschaftswahl in der TürkeiGezi – so weit weg, so gegenwärtig

Die Proteste im Gezi-Park bleiben in Erinnerung: für die Opposition als Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung, für die Regierung als Moment der Angst.

Die Gezi-Proteste haben ihre eigene Ikonografie gefunden. Bild: dpa

BERLIN taz | Der Park ist noch da. Fragt man, was aus den Geziprotesten vom Frühjahr vorigen Jahres wurde, ist dies die erste, vielleicht etwas verblüffende Antwort. Schließlich ging es, fast hatte man es schon vergessen, zunächst um den Erhalt dieses kleinen Parks im Zentrum Istanbuls.

Der Park ist noch da. Nach der Erstürmung neu begrünt und noch kitschiger als vorher, und dank der ständigen Polizeipräsenz kaum noch ein Ort für Gestrandete. Aber es gibt ihn noch.

Und der Aufbruch, zu dessen Symbol der Gezipark wurde, ist in der Erinnerung der Beteiligten lebendig. Für die jüngeren Demonstranten bildete Gezi vermutlich das Generationsereignis, über das sie noch in vielen Jahren reden werden – das ihnen im Moment aber so unendlich weit weg erscheint. Sie sind gefrustet, weil sie das Gefühl haben, sie hätten nichts erreicht.

Die älteren Oppositionellen haben trotz der Niederschlagung der Proteste eher den Eindruck, dass seit Gezi gesellschaftliche Opposition möglich ist.

Gezi als Referenzpunkt

Lebendig ist die Erinnerung auch bei der Regierungspartei AKP und Premier Recep Tayyip Erdogan. Für ein paar Tage hatten sie Angst, richtig Angst. Und die ist Erdogan noch immer anzumerken. Keine Rede seiner Wahlkampagne, in der er nicht auf Gezi zu sprechen käme und seine Interpretation (Verschwörung fremder Mächte und ihrer Handlanger) wiederholen würde.

Dossier Türkei

Dieser Text ist Teil eines Dossiers zur Präsidentschaftswahl in der Türkei, das in der taz vom 8. August erschienen ist – zu erwerben am Kiosk, im Abo oder im eKiosk.

In die Kommunalwahl im März zog die AKP in Istanbul mit der Parole „Überallhin eine Metro, überallher eine Metro“ – eine Antwort auf die Geziparole „Taksim ist überall, Widerstand ist überall“. Und wenn Erdogan, wie erst kürzlich, sagt: „Sie haben mich Georgier genannt und sogar noch Schlimmeres, sie haben mich Armenier genannt“, erinnert sich die Gegenseite, wie die Gezidemonstranten als „armenische Brut“ (wahlweise als „jüdische“) bezeichnet wurden. Gezi ist die Referenz, anhand der man sich zuordnet und anhand der man die Dinge einordnet.

Und Gezi hat die türkische Zivilgesellschaft zum Leben erweckt, in einer Form, wie es sie nie zuvor gab. Man konnte das etwa bei der Kommunalwahl sehen, als Tausende Bürgerinnen und Bürger in den Wahllokalen die Stimmauszählung zu verfolgen versuchten, um Manipulationen zu verhindern oder diese zu dokumentieren. Bei der Auszählung der Präsidentschaftswahl wird es das auch geben.

Verlorener Kampf

Eine eigene politische Partei hat Gezi jedoch nicht hervorgebracht. Aber, was vielleicht auf Dauer wirkungsvoller ist, einen vorsichtigen Wandel der bestehenden oppositionellen Parteien ausgelöst. Zugleich hat Gezi die gesellschaftliche Polarisierung verstärkt. Tayyip oder nicht Tayyip, darauf konzentriert sich alles. Und beide Tendenzen widersprechen sich zuweilen.

Aber warum ist Erdogan seinerzeit so auf Konfrontation gegangen, warum hat er nicht die Proteste besänftigt, als dies noch möglich gewesen wäre? Eine nicht gesicherte, aber plausible Antwort: Er wollte an Stelle des Parks die für die türkischen Islamisten symbolisch wichtige Kaserne unbedingt wieder errichten. Aber nicht, um darin ein Einkaufszentrum einzurichten, sondern seinen eigenen Präsidentensitz. Die Wahl wird Erdogan gewinnen. Diesen Kampf hat er verloren.

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5 Kommentare

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  • Immer diese "Achtung Erdogan"-Warner. OK, wir haben es begriffen, wenn er an die Macht kommt wird alles schlimmer, er sagt den Israelis die Wahrheit ins Gesicht, die Minderheiten kriegen mehr Rechte als in den 1000 Jahren davor, die Industrie wird 12 Jahre lang trotz anhaltender Rezessionen boomen, die Armee darf nicht mehr putschen und dabei Leute verschwinden lassen, die PKK wird weiterhin Kinder entführen oder töten, es werden mehr Universitäten gebaut als die Region haben sollte, es wird ein Riesen-Flugdrehkreuz errichtet, den man aus Lufthansalobbysicht überhaupt nicht akzeptieren kann, da die Turkish Airlines jetzt schon die am schnellsten wachsende Fluggesellschaft sei, der Bosporus wird durch einen künstlichen Kanal entlastet, türkische Behörden dürften FB, Twitter und Co müssen genau wie in Europa auch Ansprechbar für Beschwerden sein....

    • @a2thek:

      Würden Sie meinem Verständnis auf die Sprünge helfen und nochmal kurz zusammenfassen, welche Wahrheit Erdogan den Israelis ins Gesicht sagt? Als nächstes baut er noch das Magnetschwebebahnnetz aus.

  • "Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten" Man möchte sich ein paar Jahre schlafen legen um die Türkei zu erleben deren Saat gelegt ist. Aber auch um nicht zu sehen was die nächsten Monate und Jahre kommen wird.

  • 9G
    90191 (Profil gelöscht)

    "Er wollte an Stelle des Parks die für die türkischen Islamisten symbolisch wichtige Kaserne unbedingt wieder errichten."

     

    Immer diese bösen Islamisten. Die sind doch an allem Schuld. Wahrscheinlich wollen die in Kiew auch die Scharia einführen. Putin bewahre uns!

    • @90191 (Profil gelöscht):

      Islamophobie ist nicht mehr oder weniger beschränkt, als der naive Umgang mit religiöse legitimierten Extremisten und erst recht nicht Ihre Mobilisierung in politisch stark aufgeheitzten Zeiten. Da Erdogan für den Erhalt seiner Macht offenbar bereit ist, jede Büchse aufzumachen, scheint es mir doch ein wenig reflexhaft, derlei nachvollziehbare strategische Überlegungen nicht zu erwägen. Es geht nicht um die bösen Islamisten sondern um den gewissenlosen Umgang mit dem Potenzial extremisierbarer Kräfte.