Dardenne-Brüder über ihren neuen Film: „Es gibt das Moment des Kollektiven“
In „Zwei Tage, eine Nacht“ kämpft eine Frau darum, ihren Job zu behalten: Solidarität ist zu etwas Außerordentlichem geworden, sagen Jean-Pierre und Luc Dardenne.
taz: Die Idee zu diesem Film ist, wie man lesen konnte, schon zehn Jahre alt. Wenn Sie ihn vor zehn Jahren gedreht hätten, hätte er angesichts der sozialen, politischen, ökonomischen Situation anders ausgesehen?
Luc Dardenne: Uns ist erst vor zwei Jahren klar geworden, wie wir das genau anpacken. Was wir hatten, war die Idee einer Frau, die diese „Odyssee“ von einer Kollegin, einem Kollegen zum nächsten machen muss, um ihren Job behalten zu können. Was uns fehlte, war der ökonomische Kontext, der nach 2008 sehr viel härter wurde. Anfang der nuller Jahre wäre die Dringlichkeit sicher nicht dieselbe gewesen. Was aber noch wichtiger war: Uns wurde klar, dass wir in diesem Szenario eine Figur wie Manu brauchten, den Ehemann, der Sandra immer wieder ins Haus zurückführt, wo sie neue Kraft für den Kampf findet.
Der Film ist unkonventionell erzählt. Eine klassische Dramaturgie sähe sicher so aus, dass Sie, je länger dieser Stationenweg geht, umso stärker abkürzen. Aber nein, Sandra sucht eine Figur nach der anderen auf, manche mehrfach, spricht, streitet stets aufs Neue – was auch heißt, dass alle Kollegen jeder für sich nicht nur ein Gesicht, sondern auch ein Gewicht bekommt. Das hat ein starkes Moment von Serialität. Hatten Sie nicht die Sorge, dass das die Zuschauer in dieser Konsequenz ermüden könnte?
Luc Dardenne: Das Moment des Seriellen, der Platz für jeden Einzelnen, diese Gleichberechtigung waren uns von Anfang an wichtig. Es schien uns zentral, dass Sandra jedes Mal aufs Neue ihre Frage stellen muss, dass man in die Dialogszenen eben nicht später einsteigt. Nein: wieder und wieder muss sie diese Frage stellen; und es wird in der Wiederholung nicht einfacher für sie, sondern immer härter. Wir haben natürlich variiert, mal sind da die Kinder, die die Tür öffnen, die Partner. Und es gibt ja nicht nur den potenziell ermüdenden Effekt, sondern es gibt stets aufs Neue auch wieder Momente von Suspense: Wer ist hinter dieser Tür? Wird er oder sie auf Sandras Seite stehen oder nicht? Sich überzeugen lassen? Das immer mit Blick auf den Ausgang der Sache: Wird es bei der Abstimmung am Ende für Sandra reichen? Und wie wird Sandra reagieren, wird sie aufgeben oder weitermachen?
Wäre es falsch zu sagen, dass der Film – und ich meine das überhaupt nicht negativ – einen starken didaktischen Zug hat, gerade in seiner Konsequenz? Ja, man könnte sich fast vorstellen, er wäre im Auftrag einer Gewerkschaft gedreht, mit der Botschaft: Seht her, das sind die Folgen der Entsolidarisierung, jeder kämpft für sich allein, mit einem Betriebsrat wäre das alles anders gekommen.
(langes Schweigen)
Jean-Pierre Dardenne: Nun ja. Die Gewerkschaften, wie ich sie kenne, würden einem nicht die Freiheit des Ausdrucks einräumen, die Filme wie die unseren brauchen.
Luc Dardenne: (lacht) Oh ja. Wir haben schon mit den Gewerkschaften gearbeitet. In der Realität haben wir nicht die Form von Gewerkschaft, die es dafür bräuchte. Andererseits, ja, vielleicht, warum nicht. Es wäre dann sozusagen eine Beweisführung ex negativo. Oder was meinst du?
Jean-Pierre Dardenne: Doch, ja. Why not? Die Paradoxie des Films ist diese: Wir zeigen eine hyperorganisierte, entwickelte Gesellschaft in Europa, in der Arbeitsrechte, Gewerkschaften etc. existieren – und doch muss Sandra kämpfen, als befände sie sich in einer Gesellschaft, in der es diese Errungenschaften nicht gibt. Aber das ist die Realität unserer Gesellschaft: die soziale Unsicherheit, das Zurückgeworfensein auf das private Umfeld. Es wird immer schwieriger, eine solidarische Bewegung zu formen.
Ein Freund in der Gewerkschaft sagte uns, dass es wirklich schwierig geworden ist, die Menschen noch für eine gemeinschaftliche Aktion, einen Protest, einen Streik zu organisieren. Natürlich nicht, weil die Leute moralisch schlechter geworden sind, sondern weil die Bedingungen ihnen die Solidarität so sehr erschweren. Solidarität ist von einem Akt der Selbstverständlichkeit geradezu zu etwas Außerordentlichem geworden; in ihren solidarischen Gesten sind sich die Individuen selbst fremd – es gab aber Zeiten, da waren sie in diesen Gesten sozusagen ganz bei sich.
Marion Cotillard spielt Sandra. Nach einer Auszeit wegen einer Depression will sie zurück in ihren Job als Arbeiterin in einer Solarfirma. In der Firma ist ihre Arbeitskraft aber nicht mehr gefragt: Die Belegschaft soll entscheiden, ob Sandra zurückkehren soll - alternativ erhielte jeder von ihnen eine Prämie in Höhe von 1.000 Euro. Die Mehrheit will das Geld, nicht Sandra. Ein Wochenende lang - zwei Tage, eine Nacht - hat Sandra nun Zeit, die Kolleginnen und Kollegen auf ihre Seite zu bringen. So klar und geradeheraus wie der Titel und so stur wie seine Heldin ist auch der jüngste Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Er folgt Sandra auf ihrem Stationenweg von Tür zu Tür der Kollegen. Die Kritiken in Cannes waren gemischt. Keine Frage, dass sich die Dardennes vom Körperkamerakino, das sie berühmt gemacht hat, immer weiter entfernen. "Zwei Tage, eine Nacht" ist abstrakter, ist eine ethische Versuchsanordnung. Weil das so offen zutage liegt, ist der Film allerdings auch wunderbar transparent.
„Zwei Tage, eine Nacht“. Regie: Jean-Pierre u. Luc Dardenne. Mit Mario Cotillard, Olivier Gourmet u. a. Belgien/Frankreich/Italien 2014, 95 Min.
Mit Marion Cotillard spielt erstmals ein richtiger Weltstar in einem Dardenne-Film. Das finde ich nicht per se problematisch. Aber sie hat, ob man will oder nicht, im Ensemble der Darsteller eine herausgehobene Rolle. Zugespitzt gefragt: Verstärkt das nicht auf der Ebene der Besetzungspolitik gerade die im Film beklagte Individualisierungstendenz?
Luc Dardenne: Dass es die Fokussierung auf die Figur stärkt, das würde ich zugeben. Ich sehe da aber kein Problem. Im Übrigen haben wir alles getan, um Marion als Sandra zu banalisieren. Sie ist durch nichts herausgehoben, nichts unterstreicht ihren Star-Status, im Gegenteil. Aber natürlich: Ganz vergessen können das die Zuschauer nicht. Marion ist eine so gute Schauspielerin, dass dieses Faktum, ihr Status als weltbekannter Star, beim Sehen eingeklammert wird. Aber natürlich, nur eingeklammert. Ganz verschwinden wird es nicht. Der große Vorteil der Besetzung liegt aber auch auf der Hand: Dank Marion werden sich viel mehr Zuschauer für Sandras Schicksal interessieren.
Sie hatten wie bei Ihren anderen Filmen viele Wochen Proben vor dem Drehbeginn, auch mit Marion Cotillard – habe ich das richtig gelesen?
Jean-Pierre Dardenne: Sechs Wochen. Tag für Tag. Sie war immer dabei, da sie ja in so gut wie allen Szenen auftritt. Aber diese Verfügbarkeit für die Probenphase ist die Bedingung für alle Darsteller in unseren Filmen.
Und waren da jeweils alle Schauspieler mit dabei, oder nur die, die jeweils ihre Szenen mit Sandra/Marion Cotillard hatten?
Jean-Pierre Dardenne: Nein, nur die, die jeweils spielen. Mehr wäre nicht zu bezahlen, und ist ja auch nicht notwendig: Was sollen die anderen Schauspieler tun, wenn wir zwei, drei Tage die Szene mit Sandra und Manu im Auto proben?
Nun, man könnte ja von der Idee einer kollektiven Arbeit träumen.
Luc Dardenne: Nein, nein. Also, ja, es gibt das Moment des Kollektiven: Die Schauspieler können Sachen vorschlagen, können sagen, ich würde es lieber so probieren. Das ja, wir ändern durchaus auch immer wieder einzelne Dinge. Die Atmosphäre bei unseren Dreharbeiten ist angenehm, wir proben auch während des Drehs noch einmal am Vormittag, wir verbringen den Tag miteinander, wir essen gemeinsam. Aber es gibt unser Drehbuch und am Ende sagen dann schon wir: Das wird so gemacht.
In der Arbeit mit den Darstellern kommt es uns dabei vor allem auf einen Punkt an: Wir wollen, dass sie offen sind, dass sie ihre Vorsicht, ihre Abwehr gegenüber den Regisseuren, den anderen Darstellern verlieren. Das gilt natürlich ganz besonders für junge Schauspieler, die es mit einem Star wie Marion zu tun haben. Alle, nicht zuletzt auch wir, sollen sich sicher fühlen. So sicher, dass wir es auch wagen, einmal etwas Dummes zu sagen, etwas vorzuschlagen, das vielleicht nicht funktioniert. Und dass dann auch jeder sagen kann: Nein, so funktioniert es wirklich nicht. Das ist eine kollektive Arbeit, aber nicht in dem Sinn, dass alle zu allem etwas sagen und man dann immer alles gemeinsam entscheidet.
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