Kommentar „Charlie-Hebdo“-Titel: Die Träne des Propheten
Man kann es kaum erahnen, welch unmenschlicher Druck auf den überlebenden Mitarbeitern der neuen „Charlie Hebdo“-Ausgabe gelastet haben muss.
M an muss die Situation, einen Nachruf auf einen Freund zu schreiben oder auf einer Trauerfeier eine Rede zu halten, nicht schon selber erlebt haben, um zu erahnen, welch schier unmenschlicher Druck auf den überlebenden Mitarbeitern von Charlie Hebdo gelastet haben muss: Nach einem solch schrecklichen Anschlag auf ihre Redaktion, bei dem ihre Freunde ermordet wurden, mit dem ihre Zeitschrift ausgelöscht werden sollte und dem sie selber womöglich nur durch Zufall entronnen sind, den Titel der nächsten Ausgabe zu zeichnen.
Einer Ausgabe, von der nicht wie sonst 60.000, sondern drei Million Exemplare gedruckt werden, und auf die die Welt schauen würde. Und sie mussten nicht bloß schreiben oder reden. Sie mussten zeichnen. Komisch sein. Eine Pointe liefern.
Was für eine schreckliche Aufgabe! Und was für eine überwältigend schönes, rührendes und komisches Ergebnis! Große Kunst unter den schwierigsten Bedingungen gezeichnet. Eine Zeichnung, dies zu sagen, ist man zumindest im Augenblick geneigt, die in eine Reihe gehört mit den Revolutionsgemälden von Delacroix und da Volpedo und ähnlichen Werken der Zivilisationsgeschichte der Menschheit. Und die einmal mehr vor Augen führt, was die Mohammed-Karikaturen, die „umstritten“ zu nennen man sich angewöhnt hat, von Charlie Hebdo von denen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten in Haltung und Handwerk unterschieden hat und warum − die auch von Linken und Linksliberalen − an die Adresse von Charlie Hebdo erhobenen Vorwürfe von Rassismus und Islamophobie schon immer Unfug waren.
Das Kämpferische: Nein, wir lassen uns nicht einschüchtern, trotz alledem. Das Politische: Nein, wir setzen über eine Milliarde Muslime nicht mit den Islamfaschisten gleich. Nein, wir liefern kein Poster für Rassisten. Das Publizistische: Ja, wir machen uns über die lustig, die uns vorwerfen, wir seien verantwortungslos und – nun das Verspielte, Selbstironische – zitieren uns selbst. Das Versöhnliche: Wir schreiben „Alles ist vergeben“ und lassen dabei alles offen. (In dieser Mehrdeutigkeit auch das Künstlerische: Haben wir den Mördern vergeben oder hat Gott ihnen vergeben, weil wir das nicht können? Haben wir dem Islam vergeben oder er uns?)
Dann das Satirische: Wir greifen #JeSuisCharlie auf und treiben es auf die Spitze. Und, die eigentliche Pointe, das Menschliche, das Zärtliche: Wir trauern. Die Träne. Die Träne von Angehörigen, Freunden und Kollegen. Die Träne von Millionen Menschen. Die Träne des Propheten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis