Verlassene Orte in Brandenburg: Expedition in die Vergangenheit
Der morbide Charme verlassener Orte zieht Abenteurer an. Sie halten ihre Fundstücke geheim – hüten sie vor Tourismus und Vandalismus.
Weiße Mauern aus rauem Beton, lang, mannshoch und alle paar Meter eine Warnschrift: „Betreten verboten, Lebensgefahr“. Nur ein kleiner Sprung über die Mauer ist notwendig, um mitten in ein Labyrinth zu gelangen, eins aus zerfallenden Baracken, 60er-Jahre-Wohnkomplexen und überwucherten Exerzierplätzen. Es ist menschenleeres Sperrgebiet, seit Jahrzehnten verlassen – ein ehemaliger Flughafen mit Kasernen- und Wohngebäuden der russischen Armee in Sperenberg in Brandenburg. Es ist ein 5.000-Einwohner-Spielplatz und Ziel dieser Reise.
Sechs Jahre schon startet Ciarán Fahey immer wieder Expeditionen zu solch fremd gewordenen Orten. Einst Zivilisation, nun „best of both worlds“, wie Fahey sagt. Kultur und Natur in einem.
Meistens ist Ciarán allein unterwegs, ausgerüstet mit Kamera, Stativ und Taschenlampe. Industriekomplexe, trockengelegte Schwimmbäder und verblühte Ballhäuser stehen auf seiner Erkundungsliste. Viele davon in und um Berlin. Topografische Leerstellen, verdrängt aus dem räumlichen Bewusstsein.
Er macht Fotos, schreibt online über seine Touren, gibt Nachahmern Reisetipps, erforscht die Geschichten hinter den Orten. Eine Karte hat er nicht dabei. Dass man orientierungslos ist, dass man umherirrt und nicht weiß, worauf man stoßen wird, das alles sei Teil der Erfahrung: „Es ist der einzige Weg, sich wirklich noch als Entdecker zu fühlen“, sagt er. Wenige, die wie er das Verlassene suchen, sind so offen wie Fahey. Viele seien Einzelgänger, würden – anders als er – versuchen, ihre Funde mit Verschwiegenheit vor Vandalismus und touristischer Erschließung zu schützen.
„Schwarzer Riese“
Ciaráns Name ist irisch. Genauso wie sein Akzent. Übersetzt heißt er: „Schwarzer Riese“. Nichts an Ciarán ist dabei riesenhaft. Harmlos wirkt er, unscheinbar, seine Haare sind aschig schwarz. Doch Schwarzer Riese hat einen Sinn für Romantik, gerade wenn er von seinen Entdeckungen spricht: „Es liegt eine gewisse Tragik in diesen Häusern.“ Gebaut für einen spezifischen Zweck, wurde ihnen der Zweck nun genommen, meint er.
Geblieben sind Häuser, sind Dinge – die mitunter in ihrer Bedeutungslosigkeit schön anzusehen sind. Auf den Eingangsstufen eines Wohnblocks liegt ein verwitterter Lampenschirm. Im weiß gefliesten Erdgeschoss einer Offizierskantine steht mitten in vertrocknetem Laub eine umgestoßene Kühltruhe. Auf dem Dachboden desselben Hauses bricht ein einzelner Farn durch die Holzbretter.
„Bist du nervös?“, fragt Schwarzer Riese, auf dem Weg durch ein skelettiertes Gewächshaus. Wie vertrocknete Hautschuppen hat sich das Glas vom rostigen Metallgerüst geschält. Jedes Auftreten hinterlässt ein lautes Knirschen. Immer wieder bleibt Ciarán plötzlich stehen und streckt ruckartig seinen Kopf in die Luft. Ein paar Sekunden erstarrt er in dieser Pose, ehe er sie mit einem „Hast du das gehört?“ wieder bricht. Meistens ist es nichts. Einmal klopft von irgendwo ein Specht. „Es gibt immer etwas – etwas, das dir Angst einjagen will“, sagt er, nachdem er mehrere Minuten in einem alten Schulungsraum an der Wand lehnte. Er will Fußstapfen gehört haben. Vielleicht Wachschützer. Niemand kommt.
Gedönis ist Umwelt, ist, was wir essen, wie wir reden, uns kleiden. Wie wir wohnen, lernen, lieben, arbeiten. Kinder sind Gedöns, Homos, Ausländer, Alte. Tiere sowieso. Alles also jenseits der „harten Themen“. Die taz macht drei Wochen Gedöns, jeden Tag vier Seiten. Am Kiosk, eKiosk oder direkt im Probe-Abo. Und der Höhepunkt folgt dann am 25. April: der große Gedöns-Kongress in Berlin, das taz.lab 2015.
Doch er ist nicht der einzige Entdecker an diesem Ort. Auf dem Weg zum Flugfeld durchsucht er ein letztes Gutshaus. Die Rückseite ist eingestürzt. Auf die Seite eines ausgebrannten Herds hat ein Unbekannter die Worte „Kitchen closed!“ geschrieben – Küche geschlossen.
Dünne, lange Altherrenzähne
Ciarán geht weiter, steigt in den Keller des Hauses. Erhellt von seiner Taschenlampe hängt da eine Reihe von Plakaten: Bilder von Kosmonauten. Zwanzig Jahre nun schon vor sich hinmodernd in der Dunkelheit. Sie stehen vor ihren technischen Wunderwerken, posieren in Raum- und Jogginganzügen neben Raketen und Weltraumstationen. Und verblassen langsam.
Auf Umwegen stapft Fahey nun durch das Unterholz. Kurz vor dem Ziel, dem ehemaligen Flugfeld, wird er leichtsinnig, wechselt für einige Meter auf eine kleine Waldstraße und wird entdeckt. Fast schon gemächlich rollt ihm ein türkisgrüner Kleinwagen entgegen. Die Fronthaube des Autos ziert ein Pin-up, vielleicht aufgemalt, vielleicht aufgeklebt. „Tja, ganz umsonst nach Sperenberg gekommen“ – ein Mann grinst aus dem Fahrerfenster, zeigt seine Altherrenzähne, dünn und länglich.
Es fallen Worte wie Hausfriedensbruch, Strafanzeige: „Sie hätten an einer Führung teilnehmen können, das wäre einfacher gewesen“, sagt der Fahrer. „Wir könnten ja jetzt bezahlen und einfach unsere eigene Führung machen,“ antwortet Ciarán. Der Fremde winkt ab, will kein Geld, fordert auf, das Gelände zu verlassen, und fährt weiter.
Ehrfurcht vor dem Hangar
Ciarán sei schon häufig solchen Menschen auf seinen Touren begegnet: großes Ego, Hang zum Pedantischen, keine Autorität: „Die wollen ihr Gemecker loswerden und lassen einen dann in Ruhe.“
Endlich auf dem Rollfeld, geht es nur noch darum, mehr zu entdecken, einen dramaturgischen Höhepunkt zu finden, um innezuhalten und sagen zu können: „Ich habe alles gesehen.“ Er schweigt jetzt. Auch aus Ehrfurcht vor dem Flugzeughangar, der ins Blickfeld gerät. Mit jedem zurückgelegten Meter wird dieser monumentaler.
Erst direkt vor den zwei riesigen Toren lässt sich erkennen, dass der Hangar leer geräumt wurde. Nur das Licht der untergehenden Sonne fällt durch die Luken im Dach. Schwarzer Riese macht Fotos. Über dem Eingang steht in kyrillischer Schrift: SLAVA KPCC – Gepriesen sei die Kommunistische Partei der Sowjetunion.
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