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Im Osten sind die Dschihadisten stark

SYRIEN Die Mitglieder der Nusra-Front zählen zu den militantesten und schlagkräftigsten Gegnern des Regimes. In Deir al-Sor nahe der Grenze zum Irak planen sie die Errichtung eines islamischen Staates. Bisher herrscht in der verwüsteten Großstadt blanke Anarchie

„Wir sind nicht Teil der Revolution, wir verteidigen den Glauben“

ABU ISHAQ, NUSRA-FRONT

AUS DEIR AL-SOR NILS METZGER

„Die Front wird siegen über die Tiere, die Front wird siegen über die Ungläubigen!“ Es ist ein beliebtes Lied irakischer Dschihadisten, auf dessen Melodie ein Unterstützer der syrischen Aufständischen von Dschabhat al-Nusra (Unterstützungsfront) diese Verse gedichtet hat.

Muthanar hört sie jeden Tag, während er mit dem Auto durch die zerstörten Straßen von Deir al-Sor fährt. Er ist Medienaktivist, verkauft Videos an den arabischen Satellitensender Al-Dschasira, dokumentiert die Kämpfe aber auch im Auftrag islamistischer Brigaden. Die Nusra-Front und deren Mitglieder, die ihre Gesichter unter schwarzen Sturmhauben verbergen, bewundert er. „Das Ausland versteht sie falsch, brandmarkt sie als Terroristen. Dabei wehren sie sich lediglich gegen die Unterdrückung der Sunniten durch das Assad-Regime“, betont er.

War die Nusra-Front seit Anfang Januar 2012 zunächst nur Experten ein Begriff, prägt die Furcht vor ihnen inzwischen die Außenpolitik des Westens – was zuletzt in der massiven Aufrüstung gemäßigter Rebellen nahe der Stadt Deraa im Süden mündete. Landesweit stellen die Nusra-Front und die ähnlich agierenden Ahrar Al-Sham nun bis zu 25 Prozent aller Kämpfer, wie es in einem Bericht des Swedish Institute for Forgein Affairs heißt. Ihre militärische Schlagkraft übersteigt die anderer Gruppen deutlich. Insbesondere im Osten Syriens kontrollieren die Dschihadisten inzwischen nahezu alle strategisch wichtigen Gebiete.

Ein schwerer, goldener Vorhang verwehrt den Blick in die Basis. Eine einzelne schwarze Märtyrer-Flagge prangt darauf. Das Hauptquartier der Nusra-Front in Deir al-Sor liegt versteckt, ein aufgeschütteter Trümmerwall versperrt die Straße in eine Richtung. Die Flure führen zu provisorischen Matratzenlagern. An den Wänden hängen Flaggen des Dawlat al-Iraq al-Islamia, eines Dachverbandes irakischer al-Qaida-Verbündeter. Die Nusra-Front hat zahlreiche islamistische Kämpfer aus Libyen, dem Irak und dem Kosovo aufgenommen. Die Errichtung eines islamischen Staates in Syrien ist ihr erklärtes Ziel.

„Wir sind nicht Teil dieser Revolution, sondern verteidigen unseren Glauben“, erklärt Abu Ishaq, Sprecher einer Nusra-Kampfeinheit im Stadtteil Scheich Jassin. „Unser Dschihad besteht nicht nur aus dem Kampf, sondern auch darin, die Bevölkerung mit Nahrung und Medizin zu versorgen.“ Vor allem in Großstädten wie Aleppo und Deir al-Sor hat die Nusra-Front gemeinsam mit islamistischen Stiftungen aus den Golfstaaten in den Wintermonaten ein Netz an Sozialstationen errichtet – Koranschule meist inklusive. War die Front bis vor einem halben Jahr bemüht, ihre Kampfkraft zu stärken, mischt sie sich nun verstärkt in den Wiederaufbau ein. Das sorgt für Konfliktpotenzial.

Im Januar 2013 verkündete eine im Vorort Meyadin stationierte Nusra-Einheit die Einführung ihrer Interpretation der Scharia. Eine Religionskommission und -polizei überwacht seitdem deren Einhaltung, faktisch ist es jedoch eine Willkürherrschaft. In einem umfangreichen Bericht hat Amnesty International Mitte März zusammengetragen, welcher Verbrechen sich bewaffnete Gruppen in Deir al-Sor schuldig gemacht haben: Verhaftete Soldaten wurden vor laufenden Kameras geköpft, mehrere Rebellen brüsteten sich damit, die Leichen getöteter Soldaten verbrannt zu haben.

Immer häufiger kommt es zu Streitigkeiten und Schießereien zwischen gemäßigten und radikalen Rebellengruppen. In Meyadin protestierten Mitte März erstmals mehrere Dutzend Menschen gegen die Nusra-Front. Oppositionsgruppen versuchen, deren Einfluss zurückzudrängen – bislang ohne Erfolg. In Deir al-Sor kommen diese Gruppen nicht aus der liberalen Opposition, sondern aus den tribal-konservativen Strukturen Ostsyriens. Dorfautoritäten versuchen, Verantwortung für die Neugestaltung zu übernehmen. Ahmed al-Hadsch, einer von ihnen, war Angestellter der Handelskammer von Deir al-Sor. Die Zerstörung seiner Stadt hat ihn politisiert. „Das Land liegt im Chaos, doch wir beobachten sehr genau, wer in den letzten zwei Jahren wie gehandelt hat“, sagt er mit Blick auf Vorwürfe der Unterschlagung gegen führende Oppositionsvertreter. „Wir möchten eine Regierung, die vom Islam und unseren traditionellen Werten geprägt ist.“ Doch Radikalität hat im Weltbild des Familienvaters keinen Platz, es ist nicht geprägt von blindem Eifer.

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