: Fliehen leicht gemacht
Wenn es der internationalen Staatengemeinschaft nicht gelingt, die rechtsfreien Räume auf dem Balkan zu schließen, werden viele Kriegsverbrecher unbestraft bleiben
Im Bundestag war man am Freitag voll des Lobes. Zehn Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton habe die internationale Gemeinschaft viel erreicht. Die Region sei befriedet, Kroatien und das besonders vom damaligen Krieg betroffene Bosnien und Herzegowina seien auf einem guten Weg der Demokratisierung und der Annäherung an die Europäische Union. Nur die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck störte das allgemeine Schulterklopfen. Denn sie sprach als Einzige das nach wie vor drückende Problem der Kriegsverbrecher an.
Sicherlich, mit der Verhaftung des seit vier Jahren gesuchten kroatischen Exgenerals Ante Gotovina scheint rechtzeitig zum Jahrestag ein großer Fisch ins Netz der Fahnder gegangen zu sein. Immerhin stand der Mann an dritter Stelle auf der Fahndungsliste des UN-Tribunals in Den Haag. Und weil die kroatische Regierung maßgeblich zur Verhaftung beigetragen hat, könnte man ja auch die internationale Strategie bestätigt sehen. Die Kroaten haben dabei geholfen, „ihren“ Kriegsverbrecher auszuliefern. Erst jetzt ist für das Land der Weg für Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union endgültig frei geworden.
Doch diese wichtige Verknüpfung der Auslieferung der Kriegsverbrecher und Beitrittsverhandlungen wird in Bezug auf andere betroffene Staaten Exjugoslawiens schon aufgeweicht. Wenn mit Serbien-Montenegro Gespräche um eine Assoziierungsabkommen angekündigt werden, ohne die beiden wichtigsten Verantwortlichen der Verbrechen in Bosnien und Herzegowina, Ratko Mladić und Radovan Karadžić, zu verhaften, dann bekommen die Jubelfeiern zum zehnten Jahrestag von Dayton einen faden Beigeschmack. Das Verhalten den Kriegsverbrechern gegenüber ist widersprüchlich. Einerseits ist der gesamte Balkan eine Spielwiese von Geheimdiensten aller Art – allein in Sarajevo sollen über fünfzig tätig sein. Andererseits wird die Verantwortung, die wichtigsten Kriegsverbrecher zu fangen, auf die lokalen Behörden abgeschoben.
Gotovina hatte über all die Jahre mächtige Verbündete auch im Staatsapparat. Wie wäre es ihm sonst möglich gewesen, seine Flucht als Luxusurlaub auf Mauritius, den Kanaren oder anderen schönen Orten dieser Welt zu genießen? In seinem Armani-Anzug saß er da, vor teurem Wein und Meeresfrüchten, als die internationalen Fahnder kamen. Für Gotovina demonstrierten zwar noch Tausende in Split und seiner Heimatstadt Zadar, doch immerhin viel weniger als erwartet. Vielleicht sind Ratko Mladić und Radovan Karadžić ebenfalls auf Weltreise, in Russland, Kasachstan, bei den orthodoxen Mönchen auf Artos oder nur in Montenegro. Wahrscheinlich verstecken sie sich weniger komfortabel in Kasernen der serbischen Armee oder in den kalten Katen eines Klosters.
Doch ohne ihre unterstützenden Netzwerke wären sie schon lange verloren. In Serbien und der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina funktionieren sie noch. Und sie haben Macht.
Während des Krieges fühlten sich ihre Mitglieder allesamt als Helden. Mit der Handkante über den Hals zu streichen, reichte Mladić, um den Befehl verständlich zu machen: Tötet sie alle, die Männer von Srebrenica. Seine Leute folgten ihm. Sie kämpften ja für einen höheren Zweck, für Kirche und Nation. Viele von Mladić’ Gefolgsleuten sitzen bis heute in der Polizei, der Armee, sind vielleicht sogar in die Politik gegangen.
Zwar ist es den internationalen Fahndern in den letzten Monaten gelungen, zumindest in der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina das Netzwerk zu stören. Momcilo Mandić sitzt seit Ende August im Gefängnis in Sarajevo. Der große Pate der bosnischen Serben hat während des Krieges und danach Milliarden mit dunklen, illegalen Geschäften gescheffelt. Doch die unheilige Allianz zwischen orthodoxer Kirche, Armee, Mafia und Politik ist noch nicht gebrochen. Nur wenige nehmen Abstand, scheren aus und wollen nichts mehr mit dieser Politik zu tun haben. Doch wer dies ernsthaft tut, wird als Feigling angesehen und muss mit Strafe rechnen. Man denke nur an den Mord an Zoran Djindjić, der das Land in einen modernen Rechtsstaat umwandeln wollte. Nach wie vor gibt es rechtsfreie Räume, in denen die Kriegsverbrecher agieren.
Wie soll man Staaten in die EU integrieren, die mit solchen Problemen zu kämpfen haben? In Bosnien wäre angesichts der internationalen Präsenz mit noch immerhin fast 7.000 EU-Soldaten und 400 internationalen Polizisten die Möglichkeit gegeben, die rechtsfreien Räume zu beseitigen. Mandić sitzt zwar im Gefängnis, die internationalen Truppen nahmen in zehn Jahren über 20 mutmaßliche Kriegsverbrecher fest und zwangen die Behörden des bosnisch-serbischen Teilstaats dazu, in diesem Jahr erstmals einige der Gesuchten selbst zu verhaften. Das ist durchaus lobenswert. Doch angesichts der Größe und Länge des militärischen Engagements und der Kosten, die für die Steuerzahler verursacht wurden, sind die Erfolge ziemlich dünn gesät und haben in den Augen vieler letztlich nur Feigenblattfunktion.
In Wirklichkeit ist das UN-Tribunal in Den Haag in den vergangenen zehn Jahren von den internationalen Institutionen nur halbherzig unterstützt worden. Es sind ja nicht nur mehr Gerüchte, die darauf weisen, dass die meist gesuchten Kriegsverbrecher durch Teile der internationalen Gemeinschaft geduldet worden sind. Heute sprechen sogar hohe Offizielle unter der Hand über die zögerliche Haltung der Franzosen und die geringe Effektivität der CIA-Agenten. Manche Mächte wollten offenbar – zumindest lange Zeit – die Gesuchten gar nicht verhaftet wissen.
Dabei hat das UN-Tribunal in alle Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawien positiv hineingewirkt. Allein seine Existenz hat zivilisatorische Wirkung entfaltet. Die Schuld an den Verbrechen wird nicht Nationen, sondern Individuen zugeschrieben. Das weit verbreitete kollektive Denken wird relativiert. Die Expertenteams, die Verbrechen in vielen Regionen untersucht haben, haben einen großen Teil der Wahrheit über die damaligen Ereignisse aufgedeckt. Was wiederum die Grundlage dafür bietet, mit der Bewältigung der Vergangenheit zu beginnen. Und seit der Gründung eines gesamtstaatlichen Gerichtshofs für Kriminalität und Kriegsverbrechen in Sarajevo selbst ist signalisiert, dass die Verbrechen auch nach der absehbaren Auflösung des Tribunals in Den Haag weiterhin gesühnt werden sollen.
Das ist sicherlich sehr positiv. Doch die internationalen Institutionen dürfen nicht die falschen Signale senden. Die höchsten politischen Ebenen müssen Klartext sprechen, anstatt herumzueiern. In der Frage der EU-Mitgliedschaft darf nicht gewankt werden. Erst wenn die meistgesuchten Kriegsverbrecher verhaftet und die Netzwerke der Unterstützer zerschlagen sind, werden die rechtsfreien Räume überall in Exjugoslawien beseitigt sein. ERICH RATHFELDER
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