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wm-fieberkurveNationales Wettgrölen

Neulich war ich auf einer Karaokeparty. In einem großen Kellergewölbe irgendwo in Prenzlauer Berg. Nette Leute, gute Stimmung. Genervt hat nur, dass sich die Gastgeberin früh am Abend für etwa 20 Auftritte in die Sängerliste eingetragen hatte. Wer später kam, hatte kaum noch die Chance, selbst einen Hit zu schmettern. Nicht dass ich besonders scharf darauf gewesen wäre, aber irgendwie war es schon eigenartig, wie die gute Frau sich selbst feierte. Song für Song. Was das mit Fußball zu tun hat? Nun, in ein paar Tagen beginnt das neue Jahr, das WM-Jahr. Quasi die größte Karaokeparty, die Deutschland je gesehen hat. Schon am Silvesterabend werden zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule etwa eine Million Menschen um die Wette grölen, während die Veranstalter leuchtende Fußballmotive in den Himmel schießen: Jetzt geht’s lo-hos! Die Welt zu Gast bei Freunden. Wir die Freunde, die anderen die Gäste. Die es zu beeindrucken gilt. Bundesregierung und Wirtschaft setzen alles daran, der Welt klar zu machen, wer der Tollste ist. Der „Walk of Ideas“ etwa, dieser überdimensionale Selbstinszenierungspfad, der vor ein paar Tagen in Berlin vorgestellt wurde: Da intonieren die Gaukler der nationalen Imagekampagne mittels riesiger Stollenschuh-Skulpturen das Lied vom Fußballer, der ohne Adidas noch heute barfuß spielen müsste. Und Abgeordnetenhauspräsident Walter Momper zwitscherte bei seiner Weihnachtsansprache eine ähnliche Melodie: „Wir wollen Berlin strahlen lassen.“ Leute, ein echter Freund muss sich doch nicht so krampfhaft beweisen! Wir sind doch auch ganz in Ordnung, wenn wir uns ein wenig zurücknehmen. Keine Party ohne Gäste. Und nicht nur die Brasilianer, die uns mit ihrer feurigen Leidenschaft ja so ähnlich sind, sind eingeladen, sondern auch die blassen Ukrainer und Polen. Die würden bestimmt auch ganz gerne mal nach vorne – ans Mikrofon. CHRISTO FÖRSTER

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