: Gestensprache, schwere Sprache
KOMMUNIKATION Gesten sagen viel, aber nicht überall das Gleiche. Ein kleines Foto-Handbuch hilft
VON FRAUKE BÖGER
Will man in den USA oder in Lateinamerika drei Bier bestellen und hebt Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger Richtung Tresen, wird man ein Bier zu wenig bekommen. Der Daumen wird schlicht nicht beachtet, man muss schon den etwas ungelenken Ringfinger bemühen, um die gewünschte Zahl der Biere zu bekommen.
Eine vertraut wirkende Handbewegung kann in Indien oder Mexiko etwas ganz anderes heißen als in Schwaben oder Nordfriesland. Die Auslandskorrespondentinnen Julia Grosse und Judith Reker haben über eineinhalb Jahre Handgesten aus fast 50 Ländern zusammengetragen. In dem kleinen Büchlein „Versteh mich nicht falsch!“ mit Fotos von Florian Bong-Kil Grosse werden ihre Bedeutungen aufgelistet und erläutert. Mit Gesten kann vieles gesagt werden, manchmal mehr als mit Worten. Eine Geste kann demütigen und abwerten – schon bei den Römern wurde Gladiatoren mit dem Daumen nach unten das Todesurteil ausgesprochen. Gesten vermitteln aber auch Zugehörigkeit und Geborgenheit; mit Begrüßungsritualen beginnt jedes freundschaftliche Gespräch. Gesten erzeugen Inklusion und Exklusion, sie sind die schnellste Art der Kommunikation. Jedenfalls dann, wenn man sie versteht.
Das funktioniert nicht immer: Shopping in Uruguay. Man probiert ein neues Teilchen an und die Verkäuferin am anderen Ende des Ladens hebt Daumen und Zeigefinger wie zu einer deutschen Zwei und hält sie sich vor den Mund – was will sie damit bloß sagen? Anprobieren verboten? Mir wird schlecht, zieh das Teil aus? Verzieh dich, wir schließen gleich? Nein, es heißt: das ist super. Also kaufen.
Gesten nicht zu verstehen kann unangenehme Folgen haben: Während ein Daumen, der zwischen den Fingern einer geschlossenen Faust hindurch geschoben ist, in Brasilien nur sagen will, dass jemand geizig ist, könnten sich Niederländer schwer beleidigt von dieser Ansage fühlen. „In Italien strecken Polizisten, wenn sie einen heranwinken wollen, einen Arm aus und machen die Hand auf und zu“, erzählt Roland Posner, Direktor der Arbeitsstelle für Semiotik der Technischen Universität Berlin. In Deutschland wird diese Handbewegung als wegschicken verstanden, was, wenn befolgt, dem italienischen Polizisten nicht gefallen dürfte.
Gesten grüßen, ehren, schwören, beleidigen, fordern auf, lehnen ab und tun so als ob. Letztere ersetzen die Wortsprache. „Wir nennen sie emblematische Gesten, wie zum Beispiel die Hand, die eine Pistole darstellt“, sagt Posner. Diejenigen, die solche Gesten machen, bekommen das gar nicht mehr richtig mit und es ist schwer zu rekonstruieren, wo sie herkommen.
Auch wenn man nicht weiß, wie sie entstehen, klar ist, dass viele sehr alt sind: „Es gibt eine Gestengrenze, die vom Schwarzen Meer über Sofia und Dubrovnik nach Neapel geht, die ist bereits 2.000 Jahre alt und geht auf die Kolonisierungen der Griechen zurück“, sagt Posner. Nördlich und südlich dieser Grenze sind die Kopfbewegungen, die „ja“ oder „nein“ bedeuten, unterschiedlich. Während im Norden das Heben und Senken des Kopfes „ja“ heißt, wird im Süden mit einem schnellen Kopfheben ein „nein“ angezeigt. „Wir, die wir aus dem Norden kommen, nehmen aber nicht nur das Heben des Kopfes wahr, sondern auch das anschließende wieder Senken“, sagt Posner. Prompt interpretieren wir Zustimmung – und fertig ist das Missverständnis.
Die meisten Gesten begleiten das Sprechen und untermalen das Gesagte: „Redebegleitende Gesten sind spontaner und geben Aufschluss über die Bilder, die der Sprecher gerade im Kopf hat“, sagt Ellen Fricke, Sprachwissenschaftlerin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Das landläufige Vorurteil, in südlicheren Ländern werde mehr gestikuliert als in Deutschland, sei falsch: „Studien haben nur gezeigt, dass in Spanien raumgreifender und ausladender gestikuliert wird als in Deutschland“, sagt Fricke. Man gestikuliert nicht mehr, aber anders. Gut, wenn man weiß, wie.
■ Julia Grosse und Judith Reker: „Versteh mich nicht falsch! Gesten weltweit“. Das Handbuch, Bierke Verlag München. 14,90 Euro www.verstehmichnichtfalsch.de
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