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Die Herde folgt

MYTHOS Viele Medien zieht es an die Spree. Denn Berlin rockt und setzt die Trends. Ob das stimmt, ist egal

Kreuzberger Nächte sind lang, immer noch. Manch einem geht es längst zu weit, wenn Sauftouristen den Kiez ballermannisieren. So haben sich die Gebrüder Blattschuss das sicher nicht vorgestellt mit den Erwartungen an Berlin: Partystadt, Pilgerstätte der Kreativen, Versuchslabor für Mode, Design und Trends mit den Trottoirs als Laufsteg.

Dabei ist unerheblich, ob die Realität diesen Bildern standhält. Der Mythos lebt, die Herde folgt. Seit dem Jahr 2000 verzeichnete die Stadt einen Bevölkerungszuwachs von rund 120.000 Einwohnern, bis 2030 soll noch mal eine Viertelmillion hinzukommen. Und dem boomenden Tourismus kann in Berlin nicht mal ein grausamer Winter etwas anhaben: Im Januar und Februar stand bei den Übernachtungen ein Plus von rund zehn Prozent.

Auch die Multiplikatoren sind dem Hauptstadtsog erlegen: Verlage, Zeitungen und Werbeagenturen haben sich angesiedelt. Als sich mit Twitter endlich auch eine IT-Größe gegen Hamburg und für Berlin entschied, war bei der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Berlin Partner von einem „Ritterschlag für die Hauptstadt“ die Rede.

Bild-Chefredakteur Kai Diekmann sagte 2007 vor dem Umzug seines Blattes von Hamburg: „Berlin ist das politische, ist das kulturelle, ist das Lifestyle-Zentrum von Deutschland.“ Eine Zeitung, die schnell und jung bleiben müsse, gehöre nach Berlin. Als die Deutsche Presse-Agentur dpa in die Hauptstadt folgte, sagte Klaus Wowereit: „Die dpa ist jetzt dort, wo die Nachrichten gemacht werden.“

Seit Monaten aber haben die Medienseiten der Zeitungen und im Internet auch den Duktus von Todesanzeigen: Stellenkürzungen, Zeitungssterben, auch Magazine wurden eingestellt. Dem gegenüber steht ein paradoxer Zuwachs: Obwohl immer mehr Leser zu digitalen Angeboten tendieren, drängen bundesweit neue Printtitel auf den Markt – allein 22 Zeitschriften waren das im ersten Quartal dieses Jahres, und damit sind nun insgesamt 1.542 Titel am Kiosk zu haben, wie der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger am Montag mitteilte.

Eine unübersichtliche Lage, welche den Kampf um Leser, Nutzer und Zuschauer befeuert – auch in Berlin. Eigentlich sollte der Hype um die Stadt gerade für die regionalen Medien ein fruchtbarer Humus sein: Die Trends laufen am Fenster vorbei. Stattdessen kämpfen sie um ihre Existenz. TORSTEN LANDSBERG

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