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Das Tante-Emma-Dorf

ERFOLG Bäcker, Fleischer oder Banken sind heute in vielen Dörfern verschwunden. Nicht in Barmen. Der Ort hat die Sache selbst in die Hand genommen

VON ANNETTE JENSEN

Dass es in dem 1.400-Seelen-Dorf Barmen nahe der holländischen Grenze heute frische Brötchen, Wurst und Zahnpasta, ein Internetcafé und drei Ärzte gibt, hat seinen Ursprung in einem Wutanfall von Heinz Frey. Der Lehrer und Stadtverordnete fühlte sich hintergangen: Obwohl die Sparkasse versprochen hatte, nach einer Umstrukturierung keine Filiale zu schließen, sollte die Bank in Barmen dichtgemacht werden und damit genauso verschwinden wie die acht Lebensmittelgeschäfte, zwei Schlachter und der Bäcker, die es hier früher gegeben hatte.

„Goldritter der Neuzeit“, schmetterte Heinz Frey dem Sparkassendirektor entgegen. Und dann sammelten sich vier weitere Wutbürger um den graubärtigen, energiegeladenen Mann. „Wir haben gedacht: Jetzt müssen wir selbst etwas tun“, sagt der Vorruheständler Norbert Schommer. Sie ärgerte, dass sie nun für jede noch so kleine Besorgung ins Auto steigen mussten. Und auch dass Leute ohne Auto immer abhängiger wurden von Nachbarn und Verwandten. Die Gruppe beschloss, die Perspektive umzudrehen: Was hätten wir denn gern?

Es wurde eine Umfrage unter den Barmenern gemacht. Ganz oben auf ihrer Wunschliste standen selbstverständlich frische Lebensmittel. Doch laut Faustformel müssen heute mindestens 5.000 Menschen im Einzugsgebiet eines Lebensmittelgeschäfts wohnen, wenn es rentabel arbeiten soll; große Ketten eröffnen erst ab 8.000 potenziellen Kunden eine Filiale. So kann jeder zehnte Einwohner Deutschlands Milch und Brot nicht mehr zu Fuß einkaufen. Auch im fünf Kilometer nördlich von Jülich gelegenen Barmen war das seit Jahren so.

Kopfschütteln bei der Bank

„Wenn sich ein Tante-Emma-Laden allein nicht rechnet, müssen wir eben mehr anbieten“, lautete Freys Schlussfolgerung. Er reiste nach Holland und Baden-Württemberg, besuchte Dorfläden, sozialmedizinische Einrichtungen und Kulturhäuser und war anschließend überzeugt: Damit auch Bürger ohne Auto in Barmen gut leben können, braucht das Dorf alles zusammen. „Dienstleistung und ortsnahe Rundumversorgung“ – kurz Dorv –, taufte er seine Vision. „Ich hab da einfach die Ideen zusammengeklaut, die es anderswo schon gab“, sagt der Lehrer und grinst.

Viele in Barmen waren erst einmal skeptisch. Doch nach und nach meldeten sich knapp 180 Haushalte beim Dorv-Verein an. Freys Versuche, für das Konzept ein Darlehen zu bekommen, blieben jedoch erfolglos. „Erklären Sie mal einem Banker, dass dieselbe Person Fleisch verkaufen und Kfz-Schilder ausgeben soll. Die haben alle nur gesagt: Der Lehrer ist bekloppt.“ Den größten Teil der etwa 100.000 Euro Startkapital brachten schließlich 34 Barmener auf. „Man kennt sich hier, und wir wollten zusammen was schaffen“, erklärt Norbert Schommer, der die Finanzen verwaltet.

Frey, der irgendwann auch Architektur studiert hatte, machte die Pläne und nahm selbst den Presslufthammer in die Hand. Ein Heizungsbauer und ein Verputzer packten ebenfalls in ihrer Freizeit an, ein Gärtnermeister besorgte die Ladeneinrichtung. Auch viele andere Vereinsmitglieder engagierten sich ehrenamtlich. „Deshalb identifizieren sich hier heute fast alle mit dem Laden“, sagt Frey.

Drei Jahre vergingen seit der ersten Idee, 2006 eröffnete dann der Dorv-Laden, der sich bis heute beständig weiterentwickelt hat. Wer heute den Vorraum des schlichten Backsteinbaus der ehemaligen Sparkasse betritt, findet nach wie vor einen Bankautomaten. Wo einmal die Schalter standen, befindet sich heute eine lange Theke. Rechts im Selbstbedienungsbereich gibt es alles, von der Tütensuppe über Milch, Obst, Zeitungen bis hin zur Schuhcreme. Die Preise bewegen sich auf Supermarktniveau. Neben der Kasse aufgereiht stehen Glasvitrinen für frisches Brot, Käse und Fleisch aus der Region; der Absatz in Barmen ermöglicht einem Bäcker und einem Schlachter in zwei Nachbarorten das Überleben.

Auf der anderen Seite der Kasse kann man bei einer der beiden Verkäuferinnen seine Jacke zur Reinigung geben, Medikamente auf Rezept abholen, Briefmarken kaufen, Verwaltungsformulare beantragen oder schlicht ein heißes Getränk ordern und sich damit ins Café setzen, wo man auch im Internet surfen kann. Ältere Einwohnerinnen treffen sich dort regelmäßig, die jungen Männer vom Bauhof sieht man hier in ihrer Mittagspause. Ab und zu kommt auch jemand vorbei, um einen Stapel Fotos abzuziehen, und abends hält manchmal jemand einen Vortrag. Wer nicht mehr gut zu Fuß ist, kann sich mit dem Bus der Arbeiterwohlfahrt abholen lassen oder den Dorv-Lieferdienst nutzen. Drei anständig bezahlte Vollzeitstellen und sechs Aushilfsjobs sind entstanden – nicht wenig für einen kleinen Ort wie Barmen. Außerdem kommt ein Arzt aus einem Nachbarort einmal wöchentlich zur Sprechstunde hierher. Und als ein Zahnarzt aus Jülich neue Praxisräume suchte, kaufte er das Dorv-Gebäude und quartierte sich auf der Rückseite ein. „Manchmal braucht man einfach nur Glück“, sagt Frey.

Fünfzig neue Initiativen

450.000 Euro Umsatz macht das Dorv-Zentrum heute; die Preise sind so kalkuliert, dass am Jahresende eine schwarze Null in der Bilanz steht. Frey ist stolz, dass Barmen den Umbau aus eigener Kraft und ohne staatliche Fördergelder hinbekommen hat. Lediglich eine Machbarkeitsstudie wurde öffentlich finanziert.

Inzwischen ist Frey ein gefragter Berater: Fünfzig Dorv-Initiativen gibt es bundesweit. In Seddin bei Potsdam revitalisieren Bürger einen alten Supermarkt, in Bühl-Eisental bei Baden-Baden soll ein Nahversorgungszentrum in einem barrierefreien Wohnhaus entstehen, und im mecklenburgischen Grambow baut eine Genossenschaft das Dorfgemeinschaftshaus um. „Jedes Projekt ist anders – die Basis ist ja immer die Bedarfsanalyse der Bürger vor Ort,“ betont Frey.

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