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die taz vor zehn jahren über russland, den westen und den tschetschenien-konflikt

Die deutsche Regierung ist „in großer Sorge“, der französische Außenminister de Charette hat angekündigt, er wolle in Moskau mit der russischen Regierung verhandeln, Klaus Kinkel hat an die OSZE appelliert, und die SPD ließ ihren außenpolitischen Sprecher Karsten Voigt feststellen, man befreie nicht Geiseln, indem man Artillerie einsetzt – Bundeskanzler Kohl solle Präsident Jelzin doch einen „entsprechenden Rat“ geben. Vielleicht kann er ja noch mit dem Zeigefinger drohen.

Boris Jelzin wird auf solche „entsprechenden Ratschläge“ gerade warten. Gestern hat der Kreml den entscheidenden Endschlag in Perwomaiskaja angekündigt. Und was das bedeutet, ist klar: Die russischen Truppen bomben und töten erbarmungslos weiter, bis in dem Dorf kein einziges Haus mehr steht.

Und die Behauptung Moskaus, alle Geiseln seien bereits tot, dient nur dazu, einen neue Etappe dieses Vernichtungskrieges zu legitimieren. Denn jeder weiß mittlerweile: Um das Leben der Geiseln ist es Jelzin noch nie gegangen.

Rußland ist entschlossen, das in seinen Augen tschetschenische Übel ein für allemal auszurotten, mit Stumpf und Stiel. Auch um den Preis unzähliger neuer Opfer, die ohnehin schon nicht mehr als Menschen betrachtet werden. Wie sagte Generalmajor Alexander Michailow auf die Frage nach der Anzahl getöteter Rebellen, mit denen sich Moskau gerne brüstet: „Wir zählen nicht ihre Leichen, wir zählen ihre Arme und Beine.“

Die tschetschenischen Rebellen haben nichts mehr zu verlieren. Und so wird eine weitere Eskalation des Konklikts immer wahrscheinlicher. Die Folgen sind nicht abzusehen. Doch wie das Drama auch ausgeht: Der Westen muß sich den Vorwurf gefallen lassen, die Fähigkeit Rußlands zur Konfliktregulierung vollkommen überschätzt zu haben. Was aber noch schwerer wiegt: Viel zu lange hat er zum Tschetschenien-Drama geschwiegen.

Barbara Oertel, taz, 18. 1. 1996

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