: Was nun, Dicki Hoppenstedt?
Der Traum von selbstbestimmter Arbeit in der Kreativbranche hat für viele „puff“ gemacht
■ geboren 1970, lebt und arbeitet als freie Autorin in Hamburg. In ihrem Sachbuch „Echtleben. Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben“ (Eichborn Verlag, 2011, 256 Seiten, 17,95 Euro) setzt sie sich mit den prekären Erwerbsbedingunen in der Kreativwirtschaft auseinander. Zuletzt erschien von ihr das Reportagebuch „Rasende Ruinen. Wie Detroit sich neu erfindet“ (Suhrkamp Verlag, 2012, 90 Seiten, 5,99 Euro).
Neulich, in einer Hamburger Low-Budget-Bar, wo sich Grafiker, Fotografen, Doktoren der Philosophie und Popkultur, freischaffende Zeilenknechte und andere kluge Menschen ohne nennenswertes Einkommen treffen, fiel eine interessante Frage: Was ist eigentlich aus Dicki Hoppenstedt geworden? Aus dem pummeligen Jungen, der 1978 zu Weihnachten von seinen Eltern das Spielzeugset „Wir bauen uns ein Atomkraftwerk“ geschenkt bekam?
Kind und Kernkraftwerk sind Teil eines berühmten Loriot-Sketchs: Opa Hoppenstedt, verkörpert von Loriot, besorgt den Baukasten in einem Spielzeugladen. Die Verkäuferin führt vor, was alles zum Set gehört: „Brennkammer, Uranstab, Kühlsystem, Neutronenbeschleuniger.“ Ob das Ganze auch „richtig ‚puff‘ “ mache, also explodieren könne, fragt der Opa. „Aber ja“, versichert die Verkäuferin – und tatsächlich: An Heiligabend fackelt Klein-Dicki damit beinahe das Hoppenstedt’sche Wohnzimmer ab.
Heute dürfte Dicki um die 40 sein. Vielleicht ist ein Ingenieur aus ihm geworden. Vielleicht wohnt er jetzt in einer Maisonette mit Wintergarten, fährt einen SUV und hat für seine Chinesisch sprechenden Kinder schon zig Lebensversicherungen abgeschlossen.
Vielleicht hat Dicki es aber auch gemacht wie zehntausende andere aus seiner Altersgruppe. Vielleicht hat er geglaubt, dass mehr in ihm steckt als ein berechenbares 38-Stunden-Wochen-Leben – mehr Individualität, mehr Wildheit, mehr Kreativität! Vielleicht ist Dicki dem 90er-Jahre-Microsoft-Slogan „Where do you want to go today?“ gefolgt – und hat sich als Produktdesigner, Softwareentwickler oder Mediengehilfe selbständig gemacht. Und nun sitzt er da, in einer dieser charmanten Kleine-Preise-Bars, stiert in sein Glas und weiß nicht, wovon er seine Miete bezahlen soll.
Kreativwirtschaft – so heißt das Zauberwort, das noch bis ins Jahr 2011 auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministeriums prangte. „Die Kreativwirtschaft ist das Leitbild für die Industrie von morgen“, stand da zur Begrüßung. Inzwischen ist der Spruch von der Seite verschwunden. Diejenigen, die tatsächlich versuchen, ihren Lebensunterhalt auf „kreative“ Art zu bestreiten, können die Floskel ohnehin kaum noch ertragen. Statistiken zeigen es: Das Kreativste an der Kreativwirtschaft sind ihre Beschäftigungsformen. Das, was mittlerweile auch im Tourismus, in der Gastronomie und im Reinigungswesen grassiert – Leiharbeit, Zeitarbeit, „Werkverträge“ –, ist zuerst an den sogenannten Kreativen durchexerziert worden. Wenigstens in dieser Hinsicht zählen sie zu einer Avantgarde.
Mit 137 Milliarden Euro jährlich produzieren die deutschen Unternehmen der Kreativwirtschaft heute mehr Wertschöpfung als die Chemie-Industrie. Nur dass die Kreativunternehmen das, was sie zu verkaufen haben, oft von „Freien“ herstellen lassen, die sich ohne soziale Absicherung, dafür mit den Wettbewerbspeitschen „Selbstmarketing“ und „Selbstausbeutung“ im Rücken, um Aufträge kloppen müssen – notfalls, indem sie sich gegenseitig unterbieten. Allem Kreativgeschwätz zum Trotz sei die Zahl der „Not-Selbständigkeiten“ im Kultursektor besonders hoch, heißt es beim Bundesverband der Freien Berufe (BFB).
Durchschnittlich 15.000 bis 17.000 Euro verdient ein freier Kreativer, der es in das Versicherungssystem der Künstlersozialkasse geschafft hat – jährlich. Die oft langjährige Ausbildung, all die Praktika und Traineeships, alle „Flexibilität“, „Vernetzung“ und „Eigenverantwortlichkeit“ haben sich schlicht nicht gelohnt. Tausende einst hoffnungsvoll gestarteter Micro-Preneure, wie Soloselbständige euphemistisch auch genannt werden, sind längst zu einem akademischen Proletariat geworden, zu Tagelöhnern und Wanderarbeitern, die oft noch mit Ende 30 auf Zuschüsse aus den alt-mittelständischen Elternhäusern angewiesen sind. Wer heute zwischen 20 und 40 ist, gehört statistisch zur bestausgebildeten Generation, die das Land je hatte. Ökonomisch gesehen hat der Aufsteigertraum für viele aber „puff“ gemacht. Was nun, Dicki Hoppenstedt?
Wo würde er sein Kreuzchen malen, am 22. September? „Mittlerweile haben wir ein Millionenheer von Enthusiasten, die nicht wissen, welcher gesellschaftlichen Gruppe sie angehören und für die es keine politischen Programme gibt“, sagt der Chef der Londoner Tate Gallery, Chris Dercon, in einem oft zitierten Interview: „Diese Gruppe wächst an, und man hofft, dass sie selbst nicht erkennt, wie groß sie ist.“
Das Verdienst der Piratenpartei ist es, die Standortfragen der Freelancer als Erste in die Politik eingebracht zu haben – jedenfalls symbolisch. Logisch, dass sie in Berlin, der großmäuligsten und zugleich abgebranntesten aller Creative Cities, ihren großen Wahlerfolg erzielten. Wenn die Piraten für eine Liberalisierung des Urheberrechts eintreten, tun sie dasselbe, was das Handelsbürgertum zu Beginn der Renaissance getan hat: Sie umreißen die Rahmenbedingungen, die sie zum Aufstieg ihrer Klasse, einer neuen Kleinunternehmerklasse, brauchen. Längst sind die Piraten allerdings in die hysterisch zerstrittene Bedeutungslosigkeit zurückgefallen.
Mit einem „Kreativpakt“ versucht jetzt die SPD, die Kinder der „alten Mitte“ zu mobilisieren. Sie zählen heute zur „neuen Mitte“, die Gerhard Schröder im Wahlkampf 1998 ausgerufen hatte. Gezielt sprach er damals bei einer Rede diejenigen an, „die sich trauen, etwas zu erfinden, und die für ihre Träume die eigene wirtschaftliche Existenz einsetzen“. Ein paar Jahre später drückte er die Agenda 2010 durch. Der „Kreativpakt“, mit dem SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück nun in den Wahlkampf zieht, sieht unter anderem Mindesthonorare für freie Kreative vor, wenn sie von öffentlichen Einrichtungen wie Theatern gebucht werden. Auch um eine bessere soziale Absicherung soll es gehen.
Ironischerweise ist es aber die schwarz-gelbe Bundesregierung, allen voran Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die zaghafte Überlegungen anstellt, wie die Folgen der Agenda 2010 abzudämpfen sind. Sie hat sich jüngst sogar – ganz im Sinne der freien Kreativen – für eine stärkere Beteiligung der Verwerterkonzerne an der Künstlersozialkasse ausgesprochen. Die CDU-Frau ist manchmal eine der begabtesten SozialdemokratInnen, die derzeit frei herumlaufen.
Und schließlich könnten etliche abgebrannte Kreative auch einen alten Werbeslogan der FDP locker unterschreiben: „Leistung muss sich wieder lohnen!“ Ökonomisch gesehen sitzen sie längst mit Fensterputzern, Wachleuten, Kurierfahrern, und Pflegekräften in einem Boot. Eben darin verbirgt sich auch das politische Potenzial, das in ihnen schlummert. Die Kreativen mögen wenig Geld haben. Aber sie verfügen über all das symbolische Kapital, über Eloquenz, Cleverness, Blogger-Einfluss, um sich Gehör zu verschaffen. Wie aufregend wäre es, wenn sie sich nicht vor lauter Statusangst in ihren Co-Working-Spaces und Blogrolls verstecken würden, streberhaft immer nur unter sich, sondern sich solidarisieren würden mit den weniger gut ausgebildeten „anderen“. Vielleicht muss es den Kreativen einfach noch ein bisschen schlechter gehen, bis sie es endlich verstehen: dass sie im Stadtmarketing der Metropolen nichts als eine Dekoration sind – nur die Statisten und Hilfsameisen für die großen Geschäfte, die weiterlaufen wie eh und je.
Dicki Hoppenstedt war im Kern ein harmloser Junge. Er wollte nie ernsthaft ein Atomkraftwerk bauen, er wollte ja nur spielen! Wenn man heute nach ihm sucht – im Internet, wo sonst? – erfährt man übrigens: Dicki Hoppenstedt war niemals Dicki Hoppenstedt! Jedenfalls war Dicki kein Junge, sondern ein Mädchen. Gespielt wurde er von der Bremerin Katja Bogdanski. Mit einer Karriere in der Kreativwirtschaft hat es auch bei ihr nicht geklappt. Heute arbeitet sie als Verkaufsleiterin einer Kosmetikfirma.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen