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Ohne Dach und ungezählt

LEBEN In der Großstadt gehören Obdachlose zum Stadtbild. Aber es gibt sie auch auf dem Land. Dort ist es viel schwieriger für sie, anonym zu bleiben. Und doch gibt es keine Statistik

Sie leben versteckt, sind aber nicht unsichtbar. Obdachlose auf dem Land fallen auf. Anders als in der anonymen Großstadt passen Menschen ohne Dach über dem Kopf nicht in das friedliche Bild vom Land – für sie ist es viel schwieriger, ihr Schicksal zu verbergen. Sie schlüpfen unter bei Bekannten, um nicht gesehen zu werden. „Die Scham ist groß“, sagt Ingrid Freninez vom Sozialzentrum Haltestelle in Fürstenwalde, etwa 60 Kilometer von Berlin entfernt.

„Viele sehen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt“, so Freninez. Die meisten Betroffenen lassen sich erst helfen, wenn sie keinen Ausweg mehr finden. Allein die Sozialeinrichtung in Fürstenwalde betreut etwa sechzig Menschen im Monat, denen ein Leben auf der Straße droht – oder die ihre Wohnung bereits verloren haben.

Bis vor wenigen Jahren konnte dort durch Verhandlungen mit den Behörden und den Vermietern beinahe jede Obdachlosigkeit verhindert werden. „Heute geht es vor allem um Schadensbegrenzung“, sagt Freninez. Denn viele Menschen rutschen so schnell in die Armut, dass ihnen nicht mehr geholfen werden kann. Besonders auffällig sei, dass mittlerweile auch junge Menschen die Hilfsangebote der Sozialeinrichtungen in Anspruch nehmen.

Mitverantwortlich für das Problem ist das knappe Wohnungsangebot in Berlin. Seit etwa zwei Jahren suchen immer häufiger obdachlose Menschen aus der Hauptstadt Hilfe in der brandenburgischen Einöde. Doch der Traum von einer günstigen Wohnung kann auch hier schnell platzen: Mietsteigerung, sagt Freninez, gibt es auch auf dem Land.

Niemand weiß genau, wie viele Menschen in ländlichen Regionen tatsächlich auf der Straße leben. Weder das Land Brandenburg noch die Gemeinden führen eine Statistik über Obdachlosigkeit. „Die Lage ist nebulös“, sagt Ursula Nonnemacher, Landtagsabgeordnete der Grünen in Brandenburg. Die Landesregierung sieht die Kommunen in der Verantwortung. Diese sagen, sie könnten die hohen Kosten einer solchen Erhebung nicht allein tragen. „Die Frage der Finanzierung wird zum Pingpongspiel“, beklagt Nonnemacher.

Kommunen und Land fordern eine bundesweite Statistik, denn nicht einmal dem Statistischen Bundesamt liegen verlässliche Daten vor. Doch für die Hilfsverbände wäre das Problem damit allein nicht gelöst: „Es reicht nicht, sich der Forderung nach einer bundesweiten Statistik anzuschließen“, sagt Susanne Kahl-Passoth, Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg. „Wir brauchen Zahlen für das Land.“

Für die Hilfseinrichtungen ist die derzeitige Situation unbefriedigend – sie können nur schwer regionale Unterstützung anbieten, solange unklar ist, wie viele Menschen eigentlich betroffen sind. Die Diakonie wünscht sich daher, betroffenen Menschen präventiv Unterstützung anbieten zu können. Schnelle Hilfe bei drohender Zwangsräumung könnte verhindern, dass Menschen überhaupt auf der Straße landen, glaubt Kahl-Passoth.

Das Problem, dass es keine Statistik gibt, wird auf der im Juni stattfindenden Landesarmutskonferenz mit dem Thema „Wohnungslos in Brandenburg“ besprochen. „Damit rückt das Thema endlich in die Öffentlichkeit“, sagt Kahl-Passoth. Auch Ingrid Freninez vom Sozialzentrum in Fürstenwalde wird an der Konferenz teilnehmen. Die Projektleiterin will auf die Probleme in ihrem Landkreis aufmerksam machen, denn für sie steht fest: „Alle reden von der Großstadt, Obdachlose auf dem Land werden zu oft vergessen.“

FELIX HUETTEN, ESRA KAPLAN, SAMANTA SIEGFRIED

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