aus der mensa: im feuersturm des wissens von HARALD KELLER:
Wabbles Wohnungswechsel liegt lange zurück, und doch besteht der größere Teil seines Mobiliars noch immer aus unausgeräumten Umzugskisten. „Küche“ war bis vor kurzem der Name eines ungenutzten Raumes, inzwischen wird er seiner vorbestimmten Funktion halbwegs gerecht. Als Wabble der Tafelrunde berichtet, dass nun auch der Gasherd funktioniert, erntet er vielsagende Blicke: „Und? Hast du nicht Angst, dass dir die Bude abbrennt?“ – „Nicht mehr so wie früher. Jetzt kann ich ja schnell raus.“
Zu den Vorzügen von Wabbles neuem Quartier gehört, dass es im ersten Stock liegt und Zugang zu einer Außenterrasse bietet, über die man schnell entweichen könnte. Zuvor wohnte Wabble im vierten Stock, ein Umstand, der ihm ständiges Unwohlsein bescherte. Wabble wird von etlichen Phobien geplagt: der Angst vor Vögeln, der Angst, ein Sonderangebot zu verpassen, und der Angst, sein Leben durch einen Zimmerbrand zu verlieren.
Besucher seiner alten Behausung wunderten sich stets über einen tief in der Wand verankerten massiven Metallhaken neben einem der Fenster. Dabei handelte es sich um die Halterung für eine Strickleiter. Deren Kauf waren penible Vermessungsarbeiten vorausgegangen, um zu gewährleisten, dass sie bis hinab zum Boden reichte und den Flüchtling nicht etwa hilflos hängen lassen würde. Dennoch blieben gewisse Unwägbarkeiten – wegen seiner Höhenangst hatte Wabble den Fluchtweg nie erprobt. Würde er in Panik die Vorrichtung überhaupt installieren und seinen Leib, gichtiger Pfundskerl, der er ist, auf das Fensterbrett wuchten können?
Gern quälten ihn die Freunde mit der Frage, ob er sicher sei, dass die dünnen Trittbrettchen der Strickleiter sein Gewicht aushalten würden und ob er nicht einen – krraks, krraks, krraks – übereilten Abstieg befürchte. „Immerhin würde der Fall gebremst“, hatte er tapfer entgegnet, ist nun aber doch froh, dass in seiner neuen Wohnung notfalls eine Trittleiter ausreicht, dem flammenden Inferno zu entkommen.
Klumpe plagen andere Sorgen. Er redet auf einen ihm entfernt bekannten Zaungast ein, der seine Erzählungen sprachlos über sich ergehen lässt. In anklagendem Tonfall berichtet Klumpe, wie er nach nächtelangen Vergleichen herausgefunden hat, dass die deutsche Sprachfassung eines selten aufgeführten franko-kirgisischen Beatnik-Films aus den späten Sechzigerjahren eine wesentliche Anspielung auf einen bedeutenden georgischen Tanzfilm aus den Vierzigerjahren schnöde unterschlägt. Klumpe ist erregt, empört, hat Tränen in den Augen. Sein Gesprächspartner weiß dazu nichts zu sagen und entschuldigt sich mit Hinweis auf einen dringenden Termin.
Derweil setzt Strunk, vom ausliegenden Speiseplan inspiriert, dazu an, über den Unterschied der äußerlich verwandten Delikatessen Seeaal und Schillerlocke zu dozieren. Doch ehe er sich in unergründlichen Meerestiefen verliert, fährt Droll vorlaut dazwischen: „Schiller fand den Räucherfisch so lecker, dass er ihn sich sogar in die Haare schmierte. Seither heißt das Zeug Schillerlocken.“
Der Hörsaal ist ein Ruheraum, die Mensa jedoch der wahre Hort höheren Wissens.
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