: Hektik verdrängt lässige Eleganz
Eine Woche vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele herrscht in Turin noch immer das Chaos. Viele Einheimische sind in den Urlaub geflohen, denn die Beschaulichkeit der „Perle des Piemont“ ist hektischer Betriebsamkeit zum Opfer gefallen
von ANGELIKA BASDORF
Heute ist ein großer Tag für Turin: Die ersten 9,6 Kilometer der U-Bahn-Linie 1 werden in Betrieb genommen, hoffentlich! Aber wenn nicht, dann tut das keinem weh. Denn der Bau einer Metro war zwar eine der Bedingungen, damit die Stadt überhaupt den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele bekam, aber die nun fertig gestellte Strecke von Collegno nach Porta Susa ist weit weg vom Hauptaustragungsort der Spiele am „Lingotto“ und nutzt niemandem, der wegen der Spiele nach Turin kommt. „Die Olympiade war eine gute Gelegenheit, den seit 70 Jahren geträumten Traum von einer unterirdischen Verkehrsverbindung auf ein Datum zu fixieren“, sagt Giacomo Orsatti. Der Ingenieur hat an der Strecke mitgebaut, die nur der Anfang eines 728 Millionen Euro teuren Projekts ist. „Die Bevölkerung leidet nicht unter den Baustellen“, ist seine Meinung.
Dabei war der Slalom die erste olympische Disziplin, mit der die Turiner vertraut gemacht wurden: Straßensperren und Umleitungen gilt es für die Autofahrer, Baugruben und -zäune für die Fußgänger zu umkurven. Immerhin sind die meisten der attraktiven Plätze inzwischen wieder begehbar. So thront die Statue des berittenen Emanuele Filiberto I in neuem Glanze in der Mitte des schönsten aller Turiner Plätze, der Piazza San Carlo. Die Schönheit des Platzes beruht auf der harmonischen Symmetrie der von Carlo di Castellamonte gestalteten Barockfassaden, unter denen sich breite Arkadengänge ziehen. Überhaupt, die Arkaden von Turin sind an sich schon eine Reise wert. 18 Kilometer kann man unter ihnen trockenen Fußes zurücklegen und seine Promenade jederzeit in einem der zahlreichen Cafés unterbrechen. Ganz oben auf dem Programm sollte dabei das „Caffè San Carlo“ stehen. Hier wurde einst das erste Nusseis der Welt serviert, und bis heute stehen auf der Speise- und Getränkekarte die köstlichsten Kreationen.
War Turin im 19. Jahrhundert nur drei Jahre lang die Hauptstadt des geeinten Italiens, so ist es bis heute die Hauptstadt der Schokolade geblieben. Von deren Geschichte zeugt am besten das „Al Bicerin“. Seit 1763 gibt es dieses Café an der Piazza della Consolata. Nirgendwo sonst bekommt der Tourist einen besseren Geschmack von Turin als hier, wenn er den „Bicerin“ bestellt, eine flüssige Kalorienbombe aus doppeltem Espresso, Schokolade und Sahne. So ist derjenige gut gestärkt, der der gegenüberstehenden Kirche einen Besuch abstatten möchte. Die größten Architekten des Barocks haben an der „Consolata“ gebaut. Ihr Inneres gliedert sich in aufeinander folgende elliptische Räume, die mit monumentalen Triumphbögen verbunden sind und den prunkvollen Hochaltar einschließen. Hier holt uns Olympia wieder ein.
In einer der schönsten Kapellen brennt „ein Licht für den Sport“ – Indiz dafür, dass selbst dieser heilige Ort keine vollkommene Zuflucht vor dem sportlichen Großereignis bietet. Am Portal der Kirche kauert eine in Lumpen gehüllte Frau und bittet um Almosen. Wollte man allen Bitten nachkommen, die mehr oder minder aufdringlich vorgetragen werden, wäre man nach einem Tag in Turin wohl ärmer als die Bettelnden. „Eigentlich hat die herrschende ökonomische Krise bis jetzt die Vagabunden aus unserer Stadt fern gehalten. Aber die vielen Obdachlosen, zumeist Sinti, Roma und Nordafrikaner in den Straßen, sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass eine Menge Besucher erwartet werden“, sagt Laura Sgarlazzetta. Die Fremdenführerin bedauert ein wenig, dass das Typische an Turin, die elegant-gelassene Lebensführung, in den Tagen vor und während der Olympiade nicht vermittelbar ist. Auch hätten die Taschendiebstähle drastisch zugenommen. 1.500 Soldaten der Nationalgarde verstärken die Polizei der Stadt. Man trifft sie überall und muss sich als Rucksackträger ihre argwöhnischen Blicke gefallen lassen. „Das wird noch schlimmer“, prophezeit Sgarlazzetta. Noch nie habe eine Olympiade in den Mauern einer so großen Stadt (Turin hat etwa eine Million Einwohner) stattgefunden, deshalb seien die Sicherheitsvorkehrungen ein Albtraum für alle.
Das dürfte mit ein Grund dafür sein, dass viele Turiner in diesen Tagen die Stadt verlassen. Die Kinder haben schulfrei, und anstatt zu den Wettbewerben zu gehen, fahren die Menschen lieber in den Urlaub. Zu fast allen olympischen Veranstaltungen gibt es noch Eintrittskarten, für die inzwischen sogar die Preise gesenkt wurden. Auch Massimo Osello ist nicht begeistert über den Rummel, der die Stadt nun schon seit Monaten erfasst hat. Vielleicht rüttele die Olympiade die Stadt ja auch positiv wach, meint der Bauunternehmer, aber er erkennt hauptsächlich falsche Ansätze: „Es wurde viel gemacht, aber die Gelegenheit, etwas Zukunftsweisendes zu schaffen, ist verschlafen worden.“
Der 56-Jährige ist in Turin geboren und aufgewachsen. Er liebt die Altstadtbebauung, die breiten Alleen mit Häusern, die die norditalienische Kultur widerspiegeln, und er hasst die Gebäude von Architekten, „die nicht kulturell gebunden sind, die keine Ahnung von Turin haben“. Diese großzügige und planvoll konzipierte Stadt, von den Römern am Ufer des Po angelegt, von den Savoyern zur barocken Residenzmetropole ausgebaut, hält eine Menge an Kunst- und Kulturschätzen für Besucher bereit. Seien es die Mole Antonelliana, das Wahrzeichen Turins, von deren Dach man herrlich die Stadt überblickt, die Palazzos, die zahlreichen Kirchen, allen voran die Kathedrale mit dem Leichentuch Christi, oder die Museen: Turin ist ein Juwel.
Wer seinen Geldbeutel schonen will, kommt aber besser erst nach der Olympiade und den Paralympics hier an. Die Turiner hoffen zumindest, dass die Restaurantpreise dann wieder auf das vorher gewohnte Niveau sinken und auch die Bettler und Taschendiebe sich in die bekannten Touristenhochburgen davonmachen.
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