: Die geplante Cappuccino-Pause entfällt
Für die Winterolympiade im Piemont wurde der Transitverkehr durch die Dörfer ausgebaut. Die Gemeindeväter zucken nur die Schultern. Sie halten den endlosen Verkehrsstrom für den eigentlichen Lebensnerv der Orte, auch wenn dort niemand mehr flanieren mag. Eine Ortsbesichtigung
von GERHARD FITZTHUM
Die Verlierer der Spiele stehen schon fest. Es sind die Alpentäler Val Chisone und Val Germanasca. Die geplante Cappuccino-Pause entfällt. Allzu schnell ist deutlich geworden, was zu glauben einem schwer fällt: Villar Perosa hat weder Ortskern noch Altstadtviertel und erst recht keine Fußgängerzone. Das Dorf im alpinen Westen Piemonts ist vielmehr ganz und gar von der Durchgangsstraße geprägt. Sie ist unglaubliche zehn Meter breit und hat eine makellos neue Teeroberfläche, was für Italien ja nicht gerade typisch ist. Wer die Geschichte des Ortes kennt, ist weniger überrascht: Fiat-Gründer Agnelli stammt aus Villar Perosa, und seine Familie hat hier ihren Sommersitz – eine sichtgeschützte Villa auf einem hermetisch abgeriegelten Parkgrundstück. Der Großvater des 2003 gestorbenen „Avvocato“ hatte seinen Heimatort anno 1906 mit einer Fabrik für Kugellager bedacht, die noch heute für Arbeitsplätze sorgt. Villar Perosa wurde zur Chiffre des neuen Italien – eines Italien, in dem alle nur noch mit dem Auto unterwegs sind. Auch die neue Teerdecke verdankt sich dem Einfluss der glamourösen Familie, indirekt zumindest. Giovanni Agnelli hat es nämlich geschafft, die Winterolympiade in die Region zu holen, obwohl das Turiner Bewerbungskonzept dem der Walliser Konkurrenz hoffnungslos unterlegen war.
Auf dieser Straße wird man demnächst durch das ganze Chisonetal zu den Skirennen nach Sestriere hinauffahren – so weit, dass das IOC eigentlich den Verstoß gegen sein Vergabereglement gemerkt haben müsste. Aus Sicht der Agnellis lag Sestriere dagegen immer schon ganz nah. Schließlich befindet sich der Großteil der Anlagen in Familienbesitz – und das schon seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Damals hatte Giovannis Vater Edoardo die schneesicheren Hänge in 2.000 bis 2.700 Meter Höhe für den kommerziellen Skilauf entdeckt. Schnell waren die Bauernhöfe aufgekauft und die ersten Seilbahnen und Hoteltürme gebaut. In wenigen Jahren entstand eine Stadt im Gebirge, ein Reich aus Beton mitten in der Natur. Damit war ein erster Schritt auf dem Weg zu jener Unterordnung des Alpenraums unter die Interessen der Städter getan, die heute so selbstverständlich ist.
Mit der Olympiade erreicht diese Unterordnung einen weiteren Höhepunkt. Durch die Belagausbesserungen, Trassenverbreiterungen und Tunnelbauten entlang der alten Staatsstraße sind die Lifte von der piemontesischen Metropole nun schneller zu erreichen als je zuvor – ein Standortvorteil, der sich bald in barer Münze auszahlen könnte, denn im Anschluss an das sportliche Weltereignis soll das ganze Skigebiet verkauft werden. Die Bewohner des Chisonetals aber gehen wie immer schon leer aus. Sie bekommen nur den Lärm und die Abgase der anreisenden Wintersportler – und in Zukunft noch mehr davon. Parallel zur Erneuerung und Vergrößerung der alten Talstraße wurde nämlich eine neue „Superstrada“, eine autobahnähnliche Umgehungsstraße, gebaut. Nun liegen in Höhe von Villar Perosa drei Straßen nebeneinander. Die Val Chisone, ein enges und felsiges Alpental, wird damit vollends zum Verkehrskorridor für Tagesausflügler, die ins Skigebiet wollen. Ein Skandal ist die neue Superstrada auch deshalb, weil sie kurz vor Perosa Argentina einfach endet. So wird sich auch künftig der ganze Verkehr durch das Zentrum des einstmals bedeutendsten Städtchens im Chisonetal wälzen. Schon heute kommt man hier sonntags kaum über die Straße. Die Gemeindeväter zucken die Schultern. Sie halten den endlosen Verkehrsstrom für den eigentlichen Lebensnerv des Ortes.
Der Terror des Transitverkehrs ist jedoch auf kleinen Raum begrenzt. Wer auf der Scala santa zum alten Ortskern von Perosa aufsteigt, betritt schon nach wenigen Minuten eine ganz andere Welt. Auf behaglichen Wegen geht es durch eine locker bebaute Hanglandschaft mit alten, steingedeckten Landhäusern und vereinzelten neueren Bungalows. Die Szenerie ist mediterran – in den Gärten stehen Nussbäume, Feigen und Palmen. Weiter oben folgen Weinberge und Obstplantagen, die noch den Charme des Kleinräumigen haben. Von einem ehemals befestigten Hügel aus bietet sich ein fantastisches Panorama: Der Blick fällt auf die roten Dächer der Stadt, in die Talauen des Chisone hinunter und steigt dann ins Germanascatal auf, das mit dem Chisonetal eine politische Einheit bildet. Wie so oft in den letzten Wintern ist die Schneegrenze noch weit entfernt.
Abgesehen von dem kleinen Skigebiet am oberen Talende ist das Germanasca-Tal touristisches Niemandsland ohne Hotels und Pensionen. Um im Chisonetal ist es nicht viel besser. Wegen der Masse der Durchfahrer konnte sich zwar das ein oder andere abgehalfterte Etablissement am Leben erhalten, doch abseits der Hauptstraße herrscht Geisterstimmung. Dabei gibt es hier genau das, wofür man in den bekannteren Alpengegenden mehr als dankbar wäre: von Trockenmauern gesäumte Saumpfade, die abseits der Fahrstraßen von einem urtümlichen Bergdörfchen zum nächsten führen. Die sind schlecht oder gar nicht markiert, und es mangelt nicht nur an Unterkünften, sondern auch an Passanten. Die italienischen Bergwanderer interessieren sich nun mal vornehmlich für die reine Natur oberhalb der Baumgrenze und können der traurigen Schönheit einer untergehenden Kulturlandschaft nichts abgewinnen. Bei den escursionisti aus Nordeuropa sind diese stillen Paradiese noch gar nicht bekannt. Woher auch? Zwar gibt es im Germanasca-Tal seit kurzem einen traumhaften Rundweg, aber es fehlt an Geld für Karten und Prospekte.
Reichlich Geld gab es hingegen für die Olympiade. Es floss vornehmlich in den Straßenbau, was für die nötige Wiederbelebung des Tourismus gerade kontraproduktiv ist. Die Torinesi sind nun nämlich noch schneller wieder zu Hause als bisher, und vom turismo domenicale, dem automobilen Wochenendtourismus, kann hier kein Ort leben – Sestriere ausgenommen, aber das gehört politisch gar nicht mehr zur „Comunità montana Val Chisone/Val Germanasca“. Im Chisonetal selbst darf einzig Pragelato eine Rolle bei der Olympiade spielen. Zugesprochen wurden der Naturparkgemeinde die nordischen Disziplinen. Dafür klotzte man fünf Skisprungschanzen in den Bergwald und fräste eine neue Wettkampfloipe in den Hang.
Zudem wurde auch eine Touristenstadt für Olympiagäste gebaut – direkt an den Eingang der Val Tronchea, in dem ein Stück talaufwärts der Parco Naturale beginnt. Aus der Talsohle führt demnächst eine neue Kabinenbahn hinauf nach Sestriere, mitten durch einen bisher unberührten Lärchenwald. Im ersten Moment scheint die überdimensionierte Aufstiegsanlage völlig sinnlos zu sein, weil es keine Piste gibt, auf der man hier abfahren könnte. Tatsächlich hat die Toroc, die halb private Olympiagesellschaft, das Projekt aber clever kalkuliert. Es dient ihr dazu, die mit Staatsgeldern gebauten Häuser nach der Olympiade Gewinn bringend zu verkaufen.
Die Skisprungschanzen darf indes die Gemeinde Pragelato behalten – kein Wunder, denn hier ist kein Profit zu erwarten, sondern eine Kostenlawine. Da es in ganz Piemont keine Skispringer gibt, werden die Schanzen nach der Olympiade nutzlos herumstehen – und dabei Unterhaltskosten verursachen, die die Berggemeinde nicht bezahlen kann. Nahezu folgerichtig hat Pragelato von der Legambiente nun die bandiera nera, die „schwarze Karte“, bekommen. Die größte italienische Naturschutzorganisation zeichnet damit jedes Jahr die Gemeinde aus, die ihre Natur in den letzten zwölf Monaten besonders rücksichtslos verbaut hat.
Weiter oben, in Sestriere, ist es nicht viel anders. Obwohl kaum zu ermessen ist, wer sich in diesem Reich von Teer, Glas und Zement noch wohl fühlen kann, wird weitergebaut. Auch hier sind auf Kosten der italienischen Steuerzahler neue Gebäude entstanden, die später gewinnträchtig veräußert werden können. Im Unterschied zu Pragelato hat sich in Sestriere aber niemand beklagt. „Die Leute sind an Baustellen gewöhnt und haben den Beton zu lieben gelernt“, sagt Naturparkführer Stocco, der hier Schneeschuhtouren anbietet. Selbst die Naturschützer sind ruhig geblieben – an den planierten Skibergen Sestrieres lässt sich nun mal kaum mehr etwas zerstören. Würden sich die Kameras der Welt nicht im Februar, sondern im Juli auf die misshandelten Hänge richten – die Olympiade wäre eine gelungene Antiwerbung für Italien.
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