: Zappen und Hoppen
Dabei sein ist alles, unterwegs sein aber auch: Das Festival „100°“ im HAU und in den Sophiensælen war ein Programmmarathon, das gut zur harten Konkurrenz passt, die freie Theatergruppen untereinander austragen
Als kurz nach dreiundzwanzig Uhr die Türen zum Zuschauerraum noch einmal geöffnet werden, stöhnt eine Frau im Foyer vom HAU 2 verzweifelt auf. Ihr Theatergeist ist zwar auch nach Stunden noch willig, nur das Sitzfleisch ist mittlerweile schwach. Dann reiht sie sich aber doch in die Reihe derer ein, die auch die letzte Inszenierung dieses Abends noch mitnehmen wollen.
Ein „Vier-Tage-Marathon des Freien Theaters“ hatten die Macher von „100°“ angekündigt. Sie haben tatsächlich Ernst gemacht: Verteilt über die verschiedenen Spielstätten des HAU und der Sophiensæle gab es in noch nicht mal 100 Stunden fast 130 Arbeiten zu sehen. Allein am Donnerstag, dem Eröffnungsabend des Festivals, waren es zwei Dutzend. Bis zu sechs Produktionen gingen zeitgleich über die Bühne. Dazu kamen vier ständige Installationen und das Hörspiel „Dokument irrtümlicher Weltanschauungen“, das in einem Shuttleservice lief, mit dem man zwischen HAU und Sophiensælen pendeln konnte. Dabei sein ist alles, unterwegs sein aber auch.
Die Herausforderungen an die Kondition der Zuschauer sind bei diesem Festival zuweilen denn auch größer als die ästhetischen. Anja Haelgs Inszenierung des antiken Mythos von „Herakles & Deianeira“ ist symptomatisch. Durch Deianeiras Schuld ist ihr Gatte Herakles ermordet worden, sie selbst anschließend durch eigene Hand umgekommen. Im Stile von Sartres „Geschlossener Gesellschaft“ treffen sich nun die beiden Toten wieder, um die Umstände der Katastrophe zu verhandeln. In Abendgarderobe, beleuchtet von drei nackten Glühbirnen, sitzen sich Herakles (Johannes Karl) und Deianeira (Sulamith Bade) in einer Atmosphäre zwischen Candle-Light-Dinner und Polizeiverhör gegenüber. Allerdings wird man den Eindruck nicht los, dass hier in erster Linie zwei junge Schauspieler ihre – durchaus sehenswerten – handwerklichen Fähigkeiten demonstrieren wollen. Auch „Gebrüllt vor Lachen“, laut Programmheft ein „freches, witziges, unkonventionelles Zweipersonenstück“, kommt reichlich bieder als rampennahes Sprechtheater mit viel Raum für emotionale Brüche und Ausbrüche daher.
Dass die freien Theater an diesem Abend eine solche Vorliebe fürs Reduzierte zeigen, mag nicht zuletzt daran liegen, dass bei „100°“ maximal eine Stunde auf- und abgebaut und nur eine weitere Stunde gespielt werden darf. Dass diese äußerlichen Einschränkungen wiederum mit so wenig Mut zum Experiment einhergehen, ist schade. Erhofft man sich doch gerade aus der freien Szene neue Impulse. Und dann geht es hier zuweilen konventioneller zu, als es im Stadttheater erlaubt ist.
Zum Glück gibt es Ausnahmen. Bridge Markland zum Beispiel, die mit ihrer „Schiller in the Box“-Performance eine so unglaublich alberne Show liefert, dass man es ganz einfach nur großartig nennen kann. Unter Einsatz verschiedener Requisiten und einer Collage aus Musik- und Toneinspielungen werden Leben und Arbeiten des Dichters, nun ja, „illustriert“. Vermeintliche O-Ton-Einspieler mit einem derb schwäbelnden Schiller sind an Partyhits von Roberto Blanco oder Pink Floyd geschnitten, dazu schmeißt die als Schiller kostümierte Bridge Markland wild grimassierend und gestikulierend Barbies durch die Luft.
Das Publikum reagiert dennoch eher verhalten auf dieses anarchische Spektakel. Überhaupt sind die Zuschauer, die bei allen Inszenierungen die Säle gut füllen, vor allem mit der Koordination ihres persönlichen Festival-Ablaufs beschäftigt. Die Angst, dass in einer anderen Spielstätte ausgerechnet in diesem Moment das absolute Highlight stattfinden könnte und man selbst die falsche Wahl aus dem komplexen Programm-Guide getroffen hat, macht ein wenig unleidlich gegen das, was gerade jetzt auf der Bühne geboten wird. Im Lauf der langen Festival-Abende geht man deshalb mehr und mehr zum Event-Hopping über: Kurz wird in die Anfangsszenen einer Inszenierung reingezappt, dann wechselt man zum nächsten Spielort. Das mag einzelnen Arbeiten Unrecht tun, spiegelt aber sehr gut die harte Konkurrenzsituation, in der sich freie Gruppen auf dem breiten Berliner Markt täglich behaupten müssen.
Manchmal ergeben sich gerade durch diese Dynamik magische Momente. So etwa, wenn man nur noch die letzten Sekunden einer Inszenierung sieht: Auf der Bühne, mitten in großen Wasserpfützen, steht eine Frau in weißem Kleid und apricotfarbenem Mantel. Sie winkelt ein Bein an, breitet die Arme aus und singt sehr langsam: „We never say goodbye.“ Dann wird es dunkel. Bis in den frühen Morgen soll die Eröffnungsparty von Machern und Beteiligten gedauert haben. Da lagen die meisten Zuschauer wohl schon in ihren Betten. Oder sie sind dem Theater beim Zappen und Hoppen irgendwie abhanden gekommen.
WIEBKE POROMBKA
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