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Mädchen in der Produktion

KUNST Die Ausstellung „Doppelte Ökonomien“ zeigt Fotografien von Reinhard Mende, der 1967 bis 1990 die Leipziger Messe dokumentierte. Sie führt vor Augen, wie man heute ostdeutsche Industrie- und Alltagskultur ausstellt, ohne in Ostalgie zu verfallen

Bilder einer Ausstellung, einer der größten ihrer Art: Von 1967 bis 1990 hat der freischaffende Fotograf Reinhard Mende im Auftrag des VEB Elektrische Konsumgüter und deren Handelsmarke AKA Electric die Leipziger Messe dokumentiert. Und, im Umfeld dieser tatsächlich internationalen Leistungs- und Warenschau, auch die dazugehörigen Volkseigenen Betriebe. „Leuchtenbau Lengenfeld“, „Uhrenwerk Brotterode“. 19.500 exakt datierte Mittelformat-Negative, eingetütet auf einem thüringischen Dachboden. Darunter lebte der Fotograf in einem anderen Land, einer anderen Zeit.

Dokumentierte und, ja, auch inszenierte Planwirtschaft, aufgenommen ausgerechnet von einem freischaffenden Fotografen: So entstand ein übervoller Fundus ostdeutscher Alltags- und Industriekultur. Junge Männer mit überzeugend internationalen Siebziger-Jahre-Frisuren, die die inzwischen zur Legende illuminierten Kugelleuchten für den Palast der Republik montieren. Mädchen, die sich mit melancholischem Augenaufschlag in der Produktion bewähren.

Dass das, was seit diesem Wochenende in der Galerie Thomas Fischer in der Potsdamer Straße zu sehen ist, nicht in Ostalgie verhaftet bleibt, ist ein Verdienst der Kuratoren von „Doppelte Ökonomien/Double Bound Economies“: der Ausstellungsmacherin Doreen Mende, Tochter des Fotografen Reinhard Mende, der Fotohistorikerin Estelle Blaschke, dem Fotografen Armin Linke. Es ist ihrem multitextuellen Ansatz zu verdanken, das Archiv für möglichst viele Lesarten zu öffnen. Im vergangenen Jahr hatte man die Ergebnisse erstmals präsentiert – passenderweise in der Halle 14 auf dem ehemaligen Leipziger Messegelände. Die Schau bei Thomas Fischer bildet nun den Abschluss einer umfangreichen Archivarchäologie.

„Doppelte Ökonomien“ hat sich viel vorgenommen. Erstens: das Sichtbarmachen eines eindrücklichen Bildarchivs. Zweitens: die diskursive Verortung dieses Sichtbaren in seiner Zeit und seinem System. Experten und Zeitzeugen wurden interviewt (und sind in der Ausstellung zu hören), Stasi-Akten gesichtet, ostdeutsche Kassettenrekorder in westdeutschen Versandhauskatalogen gesucht. Drittens: eine Reflexion über Archivsysteme und das fotografische Gedächtnis im Generellen. Viertens: die künstlerische Aneignung und, ja, auch Umdeutung dieser optischen Eindrücke, das freie Spiel mit dem Material.

Ein gleichsam politischer wie poetischer Dokumentarfilm des amerikanischen Künstlers Allan Sekula über die Reisewege einer globalisierten Containerökonomie etwa teilt sich mit Reinhard Mende und seiner Leipziger Messe vordergründig nur das Motiv des weltweiten Warenverkehrs. Und die Fotografien von Seiichi Furuya – ein kleines Kind mit einer großen roten Blume inmitten plattengebauter Unwirtlichkeit – mögen ebenfalls in den späten achtziger Jahren in der DDR entstanden sein. In Kontext gesetzt mit Mendes Auftragsarbeiten aber scheint Furuyas präziser, distanzierter Blick beinahe als der eines Agenten.

Radikal subjektiv ist der Zugang von Olaf Nicolai, der für sein Künstlerbuch „Girlfriends“ kurzerhand die jungen Arbeiterinnen zu verflossenen Jugendlieben erklärt. Und damit das Werk Reinhard Mendes quasi zu seinem eigenen. Ganz schon dreist, mag man da meinen. Aber gerade durch diesen Kniff blinzelt plötzlich das Private aus Reinhard Mendes real existierender Werbefotografie. Das „Ich“ wird wieder zur Währung in dieser „Doppelten Ökonomie“.

CLEMENS NIEDENTHAL

■ „Doppelte Ökonomien/Double Bound Economies“. Bis zum 3. 8., Galerie Thomas Fischer, Potsdamer Straße 77–87, Mi.–Sa. 11–18 Uhr. Die Dokumentation des Projekts ist bei Spector Books erschienen.

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