„Bürokratie lässt sich schwer messen“

Der Grat zwischen sinnvollen und ausufernden Regeln ist schmal, sagt Bürokratie-Bekämpfer Jürgen Heinrich

taz: Warum muss jedes Unternehmen eine Restmülltonne haben, auch wenn im Betrieb gar kein Restmüll anfällt?

Jürgen Heinrich: Das war eines der Dinge, die wir in unserem Modellversuch geändert haben, obwohl die Kommunen Einspruch eingelegt hatten: Wenn die Unternehmen ihre Mülltonne abbestellen, fallen Müllgebühren weg, die dann auf die Privathaushalte umgelegt werden müssten. Der Bund hat es aber nicht aufgegriffen. Darum müssen die Unternehmen auch weiter für Mülltonnen zahlen, die sie nie benutzen.

Wer hat Schuld an zu viel Bürokratie?

Es gibt nicht einen Verantwortlichen, sondern ganz viele: Politiker, Beamte – und häufig wird vergessen, dass auch die Wirtschaft selbst Gesetze zu ihrem Schutz fordert. Etwa die Friseur-Meister, die am Meisterzwang festhalten, weil sie Konkurrenz fürchten. Oder die Rechtsanwälte, für die es gesetzliche Mindesttarife gibt. Oder die Hersteller von Spreewald-Gurken, die darauf bestehen, dass nur sie ihre Gurken unter diesem Titel verkaufen können.

Warum ist es so schwierig, Bürokratie abzubauen?

Wo es keinen Verantwotlichen gibt, kann man auch niemanden allein dafür in Haftung nehmen. Zweitens ist es nicht einfach, ein klares Ziel zu formulieren. Bürokratie lässt sich schwer messen. Die Niederländer haben das jetzt in einem neues Modell bei den Informationspflichten der Unternehmen versucht. Ihr Ergebnis: 3,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes kostet es, dass die Firmen Berichte schreiben und Statistiken ausfüllen. Die Niederländer arbeiten jetzt daran, dies deutlich zu senken und die große Koalition hat angekündigt, das Modell auch für Deutschland zu übernehmen.

Ist Bürokratieabbau immer gut?

Nein, manche Leute reden von Bürokratieabbau, meinen aber den Abbau von Sozialstaat oder ökologischen Standards. Es muss aber gewisse Regeln geben, weil sonst der Unternehmer der erfolgreichste ist, der Umwelt und Mitarbeiter am stärksten ausbeutet. Der Markt selbst ist blind und würde das von alleine nicht verhindern können.

Wo läuft die Grenze zwischen übermäßiger Bürokratie und dem sinnvollen Schutz von Mensch und Umwelt?

Das ist der Knackpunkt. Die einzelne Regelung hat für sich Sinn, aber zusammen genommen ist es zu viel. Mit Folgen, die ich empörend finde: Viele Selbstständige stehen mit einem Bein im Gefängnis, weil sie sich keine eigene Rechtsabteilung leisten können und die Vielzahl der Vorschriften etwa aus dem Arbeitsschutz und Umweltrecht gar nicht kennen können. Das unübersichtliche System lädt auch dazu ein, Schlupflöcher zu suchen.

Was läuft in Ostwestfalen-Lippe jetzt besser?

Ein Beispiel: Wenn in einer Arztpraxis ein Rechtsanwalt einzieht, dann war das früher eine Nutzungsänderung, für das ein komplettes Baugenehmigungsverfahren erforderlich war. Oder eine Produktionshalle eines Unternehmens wurde zur Lagerhalle. Das haben wir vereinfacht, die Nutzungsänderung muss jetzt in der Regel nur noch gemeldet werden und wenn die Behörde innerhalb von zwei Wochen keinen Widerspruch einlegt, ist alles genehmigt. Wir finden es gut, dass das jetzt landesweit gelten soll.

Wie kann Bürokratieabbau gelingen?

Es gilt, ein Bewusstsein für die Kosten der Bürokratie zu entwickeln. Wenn alle, die neue Regeln fordern oder einführen, sich klar machen, dass das auch mehr Aufwand bedeutet, dann ist schon viel erreicht.

SEBASTIAN HEISER