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Zum Weltschmerz begabt

Trübsal blasen in der Berliner Neuen Nationalgalerie: Eine überwältigende Schau verfolgt die Gesten der Schwermut, quer durch 2.500 Jahre Menschheitsgeschichte – Melancholie als Allegorie sowie als Remedur gegen das bewusstlose Aufgehen im Alltag

VON BRIGITTE WERNEBURG

Zur Unzeit findet die große Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin statt. Ausgerechnet jetzt, da wir eine einzige Nationalmannschaft sind, voller Kampf- und Unternehmungsgeist, macht sie die Melancholie zu ihrem Thema – Trübsal, Trägheit, Tiefsinn. Es handelt sich nicht um einen gezielt platzierten Schlag gegen die aktuellen Ertüchtigungskampagnen im Du-bist-Deutschland-Stil. Dagegen spricht die lange Vorlaufszeit der enzyklopädisch angelegten Ausstellung. Es war einfach Glück im Spiel.

Die Melancholie galt niemals nur als eine Krankheit des Geistes und der Seele. Stets war sie auch Remedur gegen das bewusstlose Aufgehen in den Geschäften des Alltags und Antidot zum Gift der Weltverbesserung. Paradoxerweise deuten ja Melancholieverbote, ob von politischen und religiösen Regimen oder nun von den Ideologen des Markts gefordert, zuallererst darauf hin, dass es mit dem Spaß ein Ende hat.

Doch die tatkräftigen Aufrührer und strengen Aufrüttler können Trost auch in dieser Ausstellung finden: Was die Darstellung der Melancholie betrifft, sind wir seit langem ungeschlagen Weltmeister. 1514 lieferte Albrecht Dürer mit seiner „Melencolia I“ ihre unhintergehbare Inkunable. Ein kleines, 23 mal 18 cm messendes Blatt und dabei das große Programmbild der jetzt angelaufenen Schau. Sie ist eine Übernahme aus Paris (siehe taz vom 16./17. 1.), die freilich gemeinsam mit den Staatlichen Museen entstand. Jean Clair, Direktor des Musée Picasso, ist Ideengeber des kunst- und kulturhistorischen Panoramas der Seelenverstimmung, das 2.500 Jahre überblickt und die Franzosen begeisterte. Über 300.000 Besucher zählte die Schau im Grand Palais.

Im größeren Raum des Berliner Mies-van-der-Rohe-Baus wurde sie auf 300 Objekte erweitert, mit einer neuen, zeitgenössischen Akzentuierung. Edward Hoppers Platzanweiserin, die im „Kino in New York“ (1939) abseits an der Wand lehnt, ihre Arme verschränkt, das Kinn in die Hand gestützt, die Geste der Schwermut regelgerecht praktiziert, benennt im Untergeschoss den Ort, an dem die melancholische Moderne den Tag zur Nacht macht: die Black Box des Kinos, in der im Foyer des Obergeschosses nun der Dark Wave aktueller Künstlervideos läuft. Abends, nach Schluss, dient sie dem gigantischen „Salon Noir“-Programm als Veranstaltungsraum.

Unglücklich, dass Hoppers berühmte „Nighthawks“ (1942) nicht zu sehen sind. Denn ist nicht die Bar, in der man seinen Kummer in Alkohol ertränkt, der andere paradigmatische Ort moderner Trübsal? Und schlösse ihr Bild nicht direkt an den rotflammenden Raum an, in dem die Gerätschaften, Mittel und Methoden der entstehenden Psychiatrie gezeigt werden, mit denen sie Abhilfe von „Genie und Wahnsinn“ schaffen will? Chemie und Elektrizität werden zur Ultima Ratio, vergleichsweise harmlos im Traumdunkel des Kinos und der Bar, brutal in den neuzeitlichen Drogen oder der Folter des Elektroschocks, worauf allerdings nur die Zeichnungen Antonin Artauds verweisen.

Direkt an Dürers Urbild dockt Carl Grossberg mit seinem „Dampfkessel mit Fledermaus“ (1928) die gewaltige Kräfte erzeugende Maschine Moderne an – neuerlich in allegorischer Darstellung. Dies gelingt ihm im kühlen Duktus seines neusachlichen Stilllebens besonders gut, da Melancholie als Allegorie weniger Ausdruck als Abdruck ist; festgehalten in einem spezifischen Repertoire von Figuren, Körperhaltungen und Gegenständen.

Die allegorische Spur vermag die Ausstellung denn auch nicht so recht zu verlassen. Die stetige Wiederkehr der Figur mit dem aufgestützten Arm, dessen Hand den schweren Kopf mit den niedergeschlagenen Augen hält, bündelt all ihre Ausgestaltungen von der Antike über Mittelalter, Renaissance, Barock und Romantik zu einem einzigen Bild, dem selbst Wolfgang Mattheuers regelwidrig aufrecht sitzende, einsame und allein gelassene Arbeiterin, „Die Ausgezeichnete“ (1973/74), nicht entkommt. Und die Gerätschaften der Vitrinen zur Vermessung der Zeit, der Erde und des Himmels, die Kräuter und Elixiere, Edelsteine und Rhinozeroshörner, all die Mittel wider die Niedergeschlagenheit, bis zur Schreibdruckwaage und zum Gedächtnisapparat der Psychiatrie, scheinen nicht so sehr unterschiedlichen Zeiten als einem einzigen gültigen Raum der Verdüsterung zu entstammen.

Eine psychologisch einfühlsame Deutung, die Dürers geflügelte Figur von faustischer Verzweiflung über die Ohnmacht des menschlichen Wissens übermannt sieht, kann Peter Klaus Schuster, Direktor der Neuen Nationalgalerie und Kurator auf deutscher Seite, daher nicht zugestehen. Nur die allegorische Lesart der „Melencolia I“ erlaubt es ihm im Katalog, ihre Interpretation in den „Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst“, also in Raymond Klibanskys, Erwin Panofskys und Fritz Saxls „Saturn und Melancholie“ mit der Aby Warburgs zu versöhnen. Schuster sieht in ihr ein Tugendblatt. Die Aufforderung, dank seines ausgezeichneten Geistes möge sich der Mensch gegen alle Widerstände zu göttlicher Vollkommenheit emporbilden. – Wir wollten eben schon immer Weltmeister werden. Man könnte verzweifeln.

Besitzen wir wirklich so wenig Begabung zum Weltschmerz, wo doch die nördlichen Völker für die Düsterkeit der Seele als besonders veranlagt gelten? Die Griechen fanden nicht nur den Grund für die Trägheit des Herzens in der schwarzen Galle, melas cholé, und damit den gültigen Begriff. Sie sahen schon die hervorragenden Charaktere – Künstler, Philosophen, große Politiker – besonders von ihr gequält und ordneten die Schwermütigen dem Nordwind zu. Der weht denn auch über die Landschaften der Romantiker hinweg, über Karl Friedrich Schinkels „Gotischen Dom an Wasser“ (1813) und über Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ (1808–1810) oder seinen „Einsamen Baum“ (1822). In diesen Gemälden wird ein neues Element sichtbar, bei dem die allegorische Deutung nicht mehr greift: das dramatisch inszenierte Licht, das den Regenbogen nicht einfach nur ersetzt. Kündet sich im hellen, aber kalten Licht dieser Landschaften nicht schon das künstliche Licht an, dessen Gleißen oder Herabdämpfen im 20. Jahrhundert die Zonen der Empfindsamkeit nicht mehr allein räumlich, sondern vor allem zeitlich markiert? Und spricht nicht der Umstand, wie die Kunstwerke immer häufiger ihr eigenes, kleines Licht mit sich führen, um sich damit ins Dunkle der Black Box zu setzen, von der Schwermut der zeitgenössischen Kunst?

Bis 7. Mai, Katalog 45 Euro; mit Filmreihe in der Black Box und einem umfangreichen Begleitprogramm, am 23. Februar „Salon Noir Clubnacht“, siehe: www.melancholieinberlin.org

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