: Aus Spiel wird Ernst
Mit seinen Konsumenten ist auch das Medium Computerspiel erwachsen geworden – auch wenn seine Kritiker das nicht wahrhaben wollen
VON JOHANNES BOCK
Jack Thompson liebt die Schlagzeilen. Der Rechtsanwalt und Moralverfechter aus Florida hat es sich seit den späten Neunzigerjahren zum Auftrag gemacht, die Jugend Amerikas vor schlechten Einflüssen zu schützen – und sieht dabei die Videospielindustrie als größte Bedrohung an. Spiele wie „Grand Theft Auto“ oder „The Sims 2“ sind für Thompson nichts anderes als Simulatoren für Sex und Mord. Durch „ungesunde, selbstbefriedigende“ Aktivitäten wie das Spielen würden Jugendliche dazu verleitet, ihr kriminelles Potenzial zu erproben – weshalb Thompson unermüdlich nach einer stärkeren Zensur und härteren Regulierungen beim Verkauf dieser Spiele ruft. Bestätigt fühlt er sich durch die Serie von Schulmassakern in den USA, auch die christliche Rechte unterstützt seinen Feldzug gegen das Böse. Denn nicht nur Jack Thompson hat Angst.
Die zwei Unbekannten
Angst vor den zwei Unbekannten, einem rasant um sich greifenden Medium einerseits und der stets rätselhaften Jugend andererseits. Deshalb schreiben sich Thompson und seine Unterstützer im konservativen Amerika zwar Familienwerte auf die Fahne, hinterfragen aber nicht, wie das Medium im „toten Winkel“ genutzt wird – der Familie eben. Denn das Videospiel ist schon lange kein Kindermedium mehr.
Der durchschnittliche Spieler ist heute 30 Jahre alt und schon als Kind mit dem Commodore oder einem Gameboy in Kontakt gekommen. Damit er spätestens als Schulabgänger oder Student den Spaß am Spiel neu entdeckt, gibt es seit 1996 die Sony Playstation. Deren technisch aufwändige Sportsimulationen oder düstere Actionspektakeln sprechen eine ältere Zielgruppe an, die den Markt seitdem entscheidend mit bestimmt. Auf ein erwachsenes Spielpublikum mit festem Einkommen und hohen Ansprüchen zielen heute die meisten Spielkonsolen von Sony über Microsoft bis zum PC-Markt – nur Nintendo mit seinem Hit, dem Gameboy, bleibt dem Vorschulpublikum weitgehend treu.
Spielen mit der Familie
In einer repräsentativen Umfrage der Entertainment Software Association (ESA) im Januar entpuppten sich 35 Prozent aller Eltern selbst als Videospieler. 80 Prozent spielten am liebsten mit ihren Kindern, und zwei Drittel (66 Prozent) der Befragten erklärten sogar, das Spielen habe die Familie näher zueinander gebracht. Und eine überwältigende Mehrheit erklärte, es sei nicht die Aufgabe der Regierung, den Verkauf von Spielen zu regulieren, um Kinder vor gewalttätigen oder sexuellen Inhalten zu schützen. Douglas Lowenstein, Geschäftsführer der ESA: „Im Gegensatz zu ihren gewählten Volksvertretern verstehen die Eltern scheinbar vollends, dass sie die Unterhaltungsmedien, die zu ihnen nach Hause kommen, selbst prüfen müssen.“
In einem mehr oder weniger freien Raum kann der Spieler eine Welt erkunden und ihr „Regelwerk“ erlernen und innerhalb der gesetzten Grenzen sein eigenes Abenteuer erleben. Ohne Interaktion passiert in der Spielwelt gar nichts. Distanziert betrachtet, bietet das Medium also ein ungemein subjektives Erlebnis mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten – und ist damit um eine Dimension reicher als Kino oder Fernsehen.
Die Welt als Simulation
Natürlich sind die Welten nur Simulationen von Freiheit, da fast alle Handlungsmöglichkeiten vom Designer erdacht sind. Das macht den Spagat zwischen suggerierter Freiheit und programmierter Linearität zur eigentlichen Herausforderung.
In einem Flugsimulator beispielsweise probiert ein Spieler erst einmal aus, wie weit er in den Himmel hinein fliegen kann, bis er irgendwann gegen eine unsichtbare Wand stößt. In diesem Moment erlebt der Spieler die Grenzen der Welt, in der er sich bewegt. Findet er hingegen in „Grand Theft Auto“ einen Fallschirm, kann er sich eine Anhöhe suchen, springen und per Fallschirm nach unten gleiten. Fürs Spielgeschehen ist das nicht weiter wichtig, aber der Spieler probiert sich aus und hat Spaß dabei. Denn so kompliziert wie die echte Welt darf die Spielwelt nicht sein.
Was dem Siegeszug durch die Wohnzimmer noch im Wege steht, ist das Fehlen eines standardisierten Formats. So wie der Film sich im Laufe seiner Entwicklung auf eine Laufzeit von etwa zwei Stunden eingespielt hat, so vielfältig und uneinheitlich ist das Konsumfenster beim Videospiel.
Das beliebte „Wario Ware“ auf dem Gameboy beinhaltet hunderte von Minispielen, die jeweils nur wenige Sekunden dauern, während ein komplexes Rollenspiel wie „Morrowind“ durchaus mehrere hundert Stunden verschlingen kann. „Dance Dance Revolution“ lädt zu einer zehnminütigen Sprungabfolge auf der Tanzmatte ein, während der Familienvater am Rechner die halbe Nacht lang strategische Kriegsfeldzüge nachspielt.
Diese Variablen im Konsumverhalten machen das Medium momentan noch schwer greifbar. Andererseits wird das intensive Verhältnis, das über einen längeren Zeitraum und durch das Element der Interaktion zwischen Spieler und Spielfigur entstehen kann, von anderen Medien nur schwer erreicht – und das stößt in unserer Kulturlandschaft neue Türen auf. Aber erst, wenn die Industrie Wege gefunden haben wird, das Spiel als akzeptierte soziale Beschäftigung zu etablieren, wird das Medium seine Pubertät hinter sich gelassen haben.
Das Erwachsenwerden des Videospiels zeigt sich auch ökonomisch. Ist das Spiel erst einmal als wirtschaftliche Kraft ernst genommen, fließt es auch in die multimediale Kulturfusion ein. Kommerzielle Kinoproduktionen wie „Matrix“, „Herr der Ringe“ oder „King Kong“ kommen ohne Konsolenklone als Franchise kaum mehr aus. Und Musiker wie 50 Cent machen sich zu Helden ihrer eigenen Videospiele, in denen Film, Musik und Spiel nahtlos ineinander fließen. Das Spiel des Rappers verkaufte sich trotz mauer Kritiken über eine Million Mal und machte mehr Umsatz als sein zeitgleich erschienener Film „Get rich or die tryin‘ “.
Mit dem Medium wächst auch die Subkultur, die es umgibt. So erfreuen sich die Soundtracks und Melodien aus Videospielen einer ähnlichen Beliebtheit wie Filmmusiken. In den letzten Jahren sind sogar Live-Aufführungen von Spiel-Soundtracks populär geworden – so beginnt die „Games Convention“ in Leipzig jedes Jahr mit einem orchestralen Spielmusik-Potpourri im Gewandhaus, mit Stücken vom Militärmarsch bis zum japanischen Flötensolo. Und die in Kalifornien sehr angesagte Indie-Rockband The Advantage vertont ausschließlich Nintendo-Titelmelodien und treibt damit ihr studentisches Publikum in eine nostalgisch angehauchte Rock-Ekstase.
Auch der Spiele-Journalismus hat sich rasant entwickelt, von den ersten Fanzines in den Siebzigern bis zu den großen Zeitschriften unserer Tage, die kostenlose Spiele oder DVDs in sechsstelliger Auflage unters Volk bringen. Der ernst zu nehmende Spiele-Journalismus siedelt jedoch zunehmend auf das Internet um, wo tagesaktuell berichtet werden kann und Spielinhalte zum Download bereit stehen.
Eine starke Underground-Bewegung gibt es aber auch hier: Der vom britischen Spiele-Journalist Kieron Gillen per Manifest ins Leben gerufene „New Game Journalism“ fordert Autoren dazu auf, ihre Spielkritik als einen subjektiven Reisebericht von einem imaginären Ort zu verfassen – und rückt damit den Spieler in den Mittelpunkt, nicht das Spiel. Entsprechende Erfahrungsberichte bieten denn auch aufschlussreiche Einblicke in die Soziologie und Erlebniswelt des Videospielers.
Der ewige Sündenbock
Obwohl also längst Teil der Kulturindustrie, wird das Spiel gerade von konservativen Gruppen noch immer oft als Sündenbock für gesellschaftliche Versäumnisse herangezogen. Sicher muss hier, wie bei allen anderen Medien auch, bedacht werden, wie die Gesetze zum Jugendschutz am besten angewendet werden können. Es gibt eben Spiele für Kinder und Spiele für Erwachsene. Aber vielleicht sollte man auch nicht vergessen, dass sich das Besiegen eines Gegners am Monitor vom symbolischen Tod im Räuber-und-Gendarm-Spiel kaum unterscheidet – Leben und Sterben ist als Analogie auf das Gewinnen und Verlieren ein Teil jeder spielerischen Betätigung – im Sport wie ebenso wie im Gelände-, Gesellschafts- oder eben Videospiel.
Sein kulturelles Potenzial und seine inhaltliche Vielfalt machen also jeden Versuch, das Videospiel pauschal zu dämonisieren, zu einem sinnlosen Unterfangen. Und wenn erst einmal Generationen von interessierten Eltern die nötige Kompetenz im Umgang mit dem Medium erworben haben, wird es auch leichter fallen, die Spiele inhaltlich zu unterscheiden und ihre Tauglichkeit für Kinder einzuschätzen. Dann muss auch Jack Thompson keine Angst mehr haben.
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