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Mimikry im Pinguingang

Die Ausstellung „chaplin in pictures: mensch, mythos, filmemacher“ in den Hamburger Deichtorhallen fahndet allzu artig nach dem Chaplinesken und entdeckt im Leben und Werk des großen ernsten Komödianten nur das, was sie sowieso schon kennt

VON BIRGIT GLOMBITZA

Keiner hat ihn kommen sehen. Er steht einfach da und klopft sich den Staub aus dem Anzug – als hätte ihn der liebe Gott gerade mit spitzen Fingern auf der Erde abgesetzt. Und nun macht er sich vor der Linse in „Kid Auto Races at Venice“ (1914) wichtig, winkt, posiert und stolziert herum, während die Rennautos an ihm vorbeisausen. Charlie legt sich mit Polizisten an, kommandiert das Publikum herum, behindert den Kameramann, wo er nur kann – Slapstick ganz ohne Tortenschlacht, verhauene Polizisten und aberwitzige Verfolgungsjagden. Eine Neuheit. Ein Komödientyp, der noch keinen Namen hat, und ein Fremder, ein Clown, ein Held, der sich gerade einen macht.

„Du hast nichts anderes zu tun, als der Kamera unaufhörlich im Weg zu stehen“, soll die einzige Regieanweisung von Regisseur Mack Sennett gelautet haben. In dieser Aufforderung zum Exhibitionismus muss Chaplin seine Chance gewittert haben. Denn als Charlie testet er in diesem Keystone-Kurzfilm bereits einen großen Teil der Gesten, Mimiken und Überraschungseffekte, die danach zu seinem festen Repertoire zählen sollten. Den Pinguingang – ein Londoner Droschkenkutscher mit wunden Füßen soll das Vorbild geliefert haben –, das rotierende Bambusstöckchen, die Art, wie er die Hand in die Hüften stemmt oder mit den Schultern zuckt, das Pathos, das noch in der fahrigsten Geste vibriert.

In den zehn Minuten von „Kid Auto Races at Venice“ kam Charlie auf die Welt, und die Ausstellung „chaplin in pictures“, die derzeit im Haus der Photographie der Hamburger Deichtorhallen zu Gast ist, tut gut daran, ihr Publikum gleich am Anfang in diese Bildstörung stolpern zu lassen. Denn neben der Einführung der legendären Accessoires wird in Chaplins zweitem Film noch etwas anderes deutlich: Mag sich Charlie bei seinen frühen Leinwandauftritten auch noch so sehr in Verteilungskriege um Aufmerksamkeit, Dinge oder Frauen verstricken – sein eigentlicher Kampf gilt der Selbstbehauptung in einer feindlichen Welt und der eigenen Wiedererkennbarkeit innerhalb komödiantischer Massenproduktionen.

In der „ersten großen Museumsausstellung über Charles Chaplin“ (Pressemappe) des Pariser NBC, die in Kooperation mit den Deichtorhallen, dem Pariser Musée du Jeu de Paume und der Rotterdamer Kunsthalle entstand, geht es vor allem um das Branding eines Mythos. In den rund 250 Fotografien, den wunderschönen Storyboards, Filmausschnitten und Plakaten und den kubistischen Hommagen von Fernand Léger wird nach dem Chaplinesken gefahndet. In filmischen und fotografischen Sequenzen soll die Autopsie einer Figur und ihrer Effekte gelingen.

Doch statt ein paar Schritte von den Bebilderungen des Mythos zurückzutreten, kann die Ausstellung nur das entdecken, was sie schon kennt, was ihre Fotos zeigen, wenn nicht „beweisen“. Darin ähnelt die Präsentation Chaplins eigener Strategie, mit der er 1915 die Einzigartigkeit seines Geschöpfs beglaubigen ließ, um sie vor Raubkopien zu schützen. Denn um Charlies Originalität juristisch abzusichern, ließ er auf etlichen Fotos sein darstellerisches Repertoire, seine signifikanten Posen und veräußerte Seelenlagen festhalten.

Pflichteifrig wird in den Deichtorhallen die Entwicklung von den frühen Filmen, vom Stakkato der Burleske zum Elegischen der großen Tragikomödien wie „The Kid“ (1921) und „City Lights“ (1931), nachgezeichnet. Chaplins Werdegang vom Auftragsclown zum Regisseur und Produzenten wird in einem Kapitel artig abgehakt. Seine politischen Überzeugungen, sein Weltruhm, seine Ausbürgerung in einem anderen. Für die semantischen und ikonografischen Verschiebungen im Werk ist da kaum Platz. Nur wenig lässt sich in Erfahrung darüber bringen, wie Charlie das Mitgefühl entdeckt und damit die simple Schadenfreude der Anfänge ablöst, mit der er noch Selbstmördern beim Gang ins Wasser behilflich war. Auch über die Ersetzung der Masken des frühen Tramps durch das weiche, melancholische Minenspiel erfährt man genauso wenig wie über die unauflösbare Sehnsucht, in die Welt der Anständigen aufzurücken, die den reinen Überlebenskampf zunehmend unterfüttert. Von Anfang an stattet sich Charlie mit den Statussymbolen des Arrivierten aus – Melone, Weste, Cutaway – und befolgt die gängigen gesellschaftlichen Rituale. Der Gedanke, inwieweit das Gesamtwerk der Rehabilitation einer Kindheit dient, ist den Ausstellungsmachern erst gar nicht gekommen. Dabei schickt der hassgeliebte Vater, ein Music-Hall-Sänger, der die Familie in London sitzen ließ, mit jedem bulligen Schurken oder unüberwindbaren Polizisten seine grauseligen Wiedergänger durch Charlies Welt.

Immerhin nimmt sich die Ausstellung die Zeit, Charlies Artistik und seine originellen Listen und Lösungen herauszustreichen, mit denen er seine Existenz als Provisorium retten kann: eine Form der Mimikry, mit der er sich beispielsweise in „Shoulder Arms“ (1918) als Baum tarnt, in „The Adventurer“ (1917) zur Stehlampe mutiert und dann noch als Erschossener davonkommen will. Hier wird Charlie selbst zu einer Erscheinungsform des Bedrohlichen. Und findet so eine perfekte Camouflage für ein Geschöpf mit bleichem Gesicht und dramatisch umschatteten Augen, das sich, ohne zu wissen, warum, in einer grotesken Welt wiederfindet, deren Regelwerk er gar nicht erst versucht zu begreifen.

„chaplin in pictures: mensch, mythos, filmemacher“. Hamburger Deichtorhallen, bis 28. Mai, Katalog 49 €

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