: Der diskrete Charme des Gliederwehs
KRANK IM BETT Malade auf der Matratze zu liegen ist eine gute Gelegenheit, mal so allgemein über das Angebot an Ängsten nachzudenken. Ob man zum Beispiel zur Tropophobie, also der Angst vor Veränderungen taugen könnte. Eine aufgehitzte Sommergrippe-Erfahrung
VON DETLEF KUHLBRODT
In der Nacht, als der Billardclub zumachte, hatte ich zu G. gesagt: „Komisch, seit zwei Monaten mach ich keinen Sport mehr und nun hab ich Muskelkater am ganzen Körper.“ Sie war im Gespräch gewesen, und ich war extra zu ihr hingegangen, um ihr diese wichtige Mitteilung zu machen. Dann hatte E. gerufen, weil ich dran war, und ich war wieder an den Billardtisch gegangen und hatte weiter verloren. Ich war ziemlich dicht und ein bisschen melancholisch. Es war ja das letzte Mal.
Am nächsten Tag fühlte ich mich wie früher nach dem Love-Parade-Weekend. Ich dachte noch: „Was ist denn das?“ Nachmittags wurde es immer heißer in meiner Einzimmerneubauwohnung. Die 30-Grad-Marke war schnell überschritten. Ich versuchte, meinen Kater mit viel Wasser und Kaffee zu ertränken. Während ich hinter schwarzen Plastikjalousien in dem Roman „2666“ von Roberto Bolaño las, verwandelte sich das, was ich zuvor für Muskelkater gehalten hatte, in eine Grippe.
Eine der wenigen lustigen Passagen in „2666“ handelt von Ängsten, von der Verbophobie, der Angst vor Worten, von der Optophobie, der Angst, die Augen zu öffnen, vor der Pädophobie, der Angst vor Kindern. „Die schlimmsten Phobien […] sind aber die Pantophobie, die Angst vor allem, und die Phobophobie, die Angst vor den eigenen Ängsten.“
Während ich überlegte, ob ich tropophobisch, also voll Angst vor Veränderungen bin, überfiel mich Traurigkeit, weil wir doch nie mehr Billard spielen würden. Irgendwann war Tischtennis vorbei gewesen, dann war Flippern vorbei gewesen, dann war Fußball vorbei, und nun war auch das Billard zu Ende. Das stimmte alles aber auch nicht ganz so – es bestand noch Hoffnung, wieder Fußball spielen zu können, falls sich die Achillessehnengeschichte, die mich seit zwei Monaten plagte, bessern würde. Wahrscheinlich würden wir auch mal wieder Billard spielen, aber eben nicht mehr regelmäßig – es gab ja keinen Salon mehr, der verkehrsgünstig lag.
Mein erster Filmkunstfilm
Ich döste im Bett und stand nach einer Weile wieder auf, weil die alte Matratze zu weich war, und legte mich stattdessen aufs Sofa. Im Fernsehen gab es „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ von Buñuel. Mein erster Filmkunstfilm. Ich war wohl vierzehn und total beeindruckt, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Meine Lieblingspassage handelt vom „Tag des blutigen Kollegen“. Später sagt die junge Frau, die so gern trinkt: „Es ist idiotisch, ohne Grund auf die Straße zu gehen, vor allem wenn man sich nichts kaufen kann.“ Ich legte mich wieder ins Bett, obgleich ich das eigentlich hasse.
Ich konnte die Grippe überhaupt nicht brauchen und schrieb auf meinen Merkzettel fürs nächste Leben: „Festanstellung! (wg. Krankheit).“
Vielleicht sollte ich auch nicht mehr allein wohnen. Wenn man mit anderen Leuten zusammenwohnt, kann man sich im Krankheitsfall bedienen lassen. Man liegt im Bett und die anderen bringen einem Zwieback mit Milch und einen Eimer, in den man kotzen kann.
A. rief an und fragte, ob ich etwas bräuchte. So krank war ich aber auch nicht. Mir war nur heiß und ein bisschen langweilig, weil mir zu schwindelig war, um länger zu lesen. Außerdem taten die Glieder weh und ich hatte einen fauligen Geschmack im Mund beim Husten. Wo waren nur die Zigaretten? – Die Zigaretten sind viel zu teuer! Als ich Zigaretten holte, bemühte ich mich, gesund zu wirken, weil nur Asoziale rauchen, wenn sie krank sind. Dann legte ich mich wieder ins Bett.
Als kleiner Junge hatte ich mich in dem Bett ein bisschen verloren gefühlt, weil es so groß war wie ein Erwachsenenbett. Nur wenn ich Beine und Arme so weit es ging ausstreckte, konnte ich die Enden des Bettes berühren. Weil es so groß war, konnten sich unter dem Bett auch viele Monster verstecken. Zum Beispiel dieser blutbeschmierte Chirurg, den ich als Kind in der Geisterbahn auf dem Hamburger Dom gesehen hatte. Und an den ich hatte denken müssen, als ich zum ersten Mal „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ gesehen hatte.
Als Teenager hatte ich mein Bett dann abgeschafft und auf der Matratze auf dem Boden geschlafen. Die letzten Jahre seines Lebens hatte mein Vater darin geschlafen, und dann war ich vor fünf Jahren mit Z. nach Schleswig-Holstein gefahren und wir hatten das Bett geholt und seitdem schlafe ich darin. Viele finden das komisch. Und weil es ja auch nicht so bequem ist, legte ich mich wieder aufs Sofa und las weiter in „2666“. Und blieb bei den Passagen über den sowjetischen Science-Fiction-Autor Ephraim Iwanow hängen: „Iwanows Angst war literarischer Art. Seine Angst war die Angst eines Großteils jener Bürger, die eines schönen Tages beschlossen, das Geschäft der Literatur und vor allem der Fiktion zum festen Bestandteil ihres Lebens zu machen. Die Angst, schlecht zu sein. Angst auch, nicht anerkannt zu werden. Aber vor allem die Angst, schlecht zu sein.“
Dann konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Dachte wieder an den Billardsalon und wie sehr ich mir immer gewünscht hatte, dort zu übernachten. Und an G., die mehrmals, sogar von Leuten, die sie kannte, sogar von einem Polizisten, der ihr zum Klo gefolgt war, belästigt worden war. Es war nichts geschehen, sie hatte auch diese Situationen gemeistert, aber unangenehm war’s doch gewesen.
Eigentlich war der Billardsalon auch ein Opfer der Gentrifizierung. Angeblich hatte der Salonbetreiber dem Hausbesitzer das Anderthalbfache der aktuellen Miete geboten. Trotzdem war der Mietvertrag nicht verlängert worden, weil der Besitzer, so heißt es, lieber die Fabriketage parzellieren und mehrere Tonstudios hineinbauen will, die er dann einzeln vermietet. Die Musiker, die dann in diesen Tonstudios Sachen aufnehmen werden, werden vermutlich von der Kulturabteilung des Senats unterstützt werden.
Andere Scherereien
Und nach fünf Tagen war die umgangssprachliche Sommergrippe auch wieder weg und es begannen andere Scherereien.
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